Kultur: Für eine „staatsfreie Entwicklung“ Ralf Dahrendorf im überfüllten Filmmuseum
Eine Warteschlange vor dem Marstall, proppenvoll der Saal am Montag, alles zu Ehren von Ralf Dahrendorf, einem der bekanntesten Soziologen in Europa. Im Rahmen des Filmmuseum-Themas „Ernstfall Demokratie“ sprach der Lord – Professor mehrerer deutscher Universitäten, ehemals Direktor der London School of Economics und Prorektor der Universität Oxford, im Brüsseler Parlament für Europa tätig und im Landtag Baden-Württemberg für die FDP – über „40 Jahre Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“.
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Eine Warteschlange vor dem Marstall, proppenvoll der Saal am Montag, alles zu Ehren von Ralf Dahrendorf, einem der bekanntesten Soziologen in Europa. Im Rahmen des Filmmuseum-Themas „Ernstfall Demokratie“ sprach der Lord – Professor mehrerer deutscher Universitäten, ehemals Direktor der London School of Economics und Prorektor der Universität Oxford, im Brüsseler Parlament für Europa tätig und im Landtag Baden-Württemberg für die FDP – über „40 Jahre Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“. Der gut einstündige Vortrag beruhte auf seinem 1965 erschienenen Altseller ähnlichen Namens, welcher sein Denken in den Grundzügen bis heute durchzieht. Die vielleicht bekannten vier „deutschen“ Ur-Thesen, durch Lebenserfahrungen variiert, stellte er auch in Potsdam voran: Differenz zwischen moderner Gesellschaft und „schlechtem Bürgerstatus für alle“; fortwährende Unentschiedenheit, gesellschaftliche und soziale Konflikte durch Angst oder „sinnvolle Regelungen“ zu lösen; keine Nomenklatur oder Führungsgruppe dürfe die „Meinungsvielfalt“ in Deutschland „repräsentieren“; Bürger sollten ihre Interessen behufs „öffentlicher Tugenden“ vertreten.
Lange Zeit dort lebend, wo der „große Teich“ geringer ist als der Kanal nach Europa, erlaubte er sich „aus leicht angelsächsischer Perspektive“ den direkten Vergleich: Deutschland kranke an zu viel Staat und zu wenig Bürgersinn. Britische Beamte hätten Ermessensspielraum, erledigten Anliegen schnell (zum Beispiel dauerte die Registrierung der „Dahrendorf Ideas Ltd.“ keine drei Tage), während die Deutschen ängstlich auf die vorgesetzten Worte schauten, jedes Eigenrisiko vermeidend. Meint man hierzulande noch immer, durch Meinungsstreit die eine Wahrheit („deutsche Kernvorstellung“) zu finden, so ist „der Konflikt“ bei den Briten „in das System eingebaut“ Auch bei kritischen Situationen: Kaum einer wisse, dass die Wahlergebnisse vom Mai den Ergebnissen des deutschen Septembers glichen, aber England habe daraus eine mehrheitsfähige Regierung gebildet. Möge sie eine Legislaturperiode lang walten und Gesetze beschließen, die Opposition als Regulativ ist ja da! Andererseits seien „Monate ohne Regierung“ für jede Gesellschaft die besten.
Sein liberales Gesellschaftsmodell ruht auf drei Säulen: Politische Demokratie, Marktwirtschaft und echter Bürgersinn. Ziel sei eine „staatsfreie Entwicklung“, worin „der Mensch auf sich selbst verwiesen“ sei, „aber mit Möglichkeit, sich selber zu helfen“. Mehr noch, er fordert den Abschied vom Glauben, dass Freiheit, Demokratie und Wohlstand zusammengehörten, wobei er besonders Ostdeutschland ansprach und Freiheit dem Wohlstand vorzog. Zweifel an der Demokratie ließ er, trotz kritischer Erfahrungen in Osteuropa, nicht gelten: Transformationsphasen dauerten eben länger als eine Legislaturperiode. Auch hierzulande sieht er sie nicht gefährdet, trotz „Verhartzung“. Seine Phantasie verheißt ihm eine „freie Bürgergesellschaft“ jenseits aller Zwänge: Mit den (leider unbestimmten) Tugenden sollte man eigene Interessen ohne Staat durchsetzen, und fehlte es an Geld, so gehe man es besorgen. Hinten Rousseau, vorne Westerwelle: In Summa plädiert er für eine Entflechtung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Gerold Paul
Gerold Paul
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