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Kultur: Ganz einfache Menschen

Die Dokumentarfilmerin Gitta Nickel wurde 70 / Veranstaltung im Filmmuseum

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Rund 90 Filme in 40 Arbeitsjahren hat sie gedreht. Es kann kaum verwundern, dass Gitta Nickel mitunter ein „Arbeitstier“ genannt wurde. Wie Filmmuseums-Mitarbeiterin Elke Schieber in einer kleinen Feier zum 70. Geburtstag der produktiven Dokumentarfilmerin darlegte, mischten sich in dieser Bezeichnung Hochachtung mit „so etwas wie Neid oder Geringschätzung“. Auch das ist verständlich, denn Gitta Nickel gilt als die einzige Frau, die sich in der Männerdomäne DEFA einen Stammplatz als Regisseurin erarbeiten konnte.

Geboren wurde Gitta Nickel 1936 in Briensdorf/Ostpreußen. Gegen Kriegsende musste sie mit Mutter und Schwestern aus der Heimat fliehen, in Blankenburg im Harz fanden sie ein neues Zuhause. Während eines Volontariats bei der DEFA eignete sie sich das filmische Handwerkszeug an: Kopierwerk, Ton- und Filmschnitt. Anschließend assistierte sie Regisseuren wie Konrad Wolf und Joachim Kunert. Doch die Fiktion war nicht ihre Sache. Als Schülerin von Karl Gass, dessen Lebensgefährtin sie einige Zeit war, entdeckte Nickel das Abbild der Wirklichkeit im Dokumentarfilm. 1965 drehte sie mit „Wir verstehen uns“ ihre erste selbstständige Arbeit. Das Thema war ein gern gesehenes in der DDR: die Deutsch-Sowjetische Freundschaft. Doch wer glaube, so Elke Schieber im Filmmuseum, dass Gitta Nickel nur deshalb so produktiv sein konnte, weil sie allzu angepasst gewesen sei, täusche sich. Denn es folgten Filme, die nur bedingt auf Wohlgefallen stießen. „Mit manchen Filmen konnten wir nicht landen“ erinnert sich die Jubilarin mit Blick etwa auf „Manchmal möchte man fliegen“, einer Dokumentation über Bauarbeiter in Marzahn, die statt sozialistischer Arbeitsamkeit, Unlust und Bummelei an den Tag legen. Es sei Nickel, so Schieber, nie in den Sinn gekommen, ihre Werke als „Frauenfilme“ zu bezeichnen, obwohl sie die gesellschaftliche Stellung der Frau in der DDR thematisierte. Etwa deren Arbeitsalltag oder Themen wie Abtreibung und Verhütung. „Gitta Nickels Filme sind Zeitdokumente, weil sie immer vom Mittendrin handeln“ beschrieb Elke Schieber die Werke der Regisseurin.

Und vom Mittendrin handeln Gitta Nickels Filme, deren Arbeit durch die Wende keinen Bruch, sondern neue Inspiration erfuhr, noch heute. Für die Reihe „Hierzulande“ des Mitteldeutschen Rundfunks gelang es ihr wieder in bemerkenswerter Weise, dass Menschen ihr Inneres vor der Kamera öffnen. Es lässt sich erahnen, wie viel Vertrauensarbeit die Regisseurin hier leistete. Wie die am Dienstag gezeigten Kurzporträts offenbarten, hat Nickel auch den Blick für besondere Persönlichkeiten nicht verloren. Sei es der 87-jährige Willi, der obwohl seit 60 Jahren nur noch einarmig, seinen Alltag vollkommen unverbittert meistert. Sei es Annegret, die nach der Wende arbeitslos geworden, heute ein ganzes Dorf mit ihren Theaterideen auf Trab hält. Wie immer ohne Kommentar, lässt Nickel ihren Helden freien Lauf, entwirft detailverliebte Bildnisse jener Menschen, die sie am meisten faszinieren: „die einfachen, die ganz einfachen“. Moritz Reininghaus

Moritz Reininghaus

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