Kultur: Gefährlich und romantisch
Die Villa Schöningen zeigt, wie die Fiktion die Realität durchdringt
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„Das ist die gefährlichste Waffe der Welt“, behauptet der dänische Künstler Jakob Boeskov und zeigt auf das Gewehr „ID Sniper“. Einen GPS-Chip schieße das Gewehr unter die Haut des Demonstranten, auf die es abgefeuert werde und mache gleichzeitig ein Foto. Sei die Demo vorbei, die Schlacht zwischen Demonstranten und Polizisten geschlagen, könne die Staatsgewalt den Flüchtigen mit dem implantierten Chip problemlos weiter verfolgen.
Die fiktive Waffe steht wie in einem Schneewittchensarg auf einem weißen Sockel in der Villa Schöningen bei der recht intelligent gebauten Ausstellung zum Thema „Realität und Fiktion“. 2002 stand sie zum Verkauf auf einer Waffenmesse in Peking. Das Interesse war lebhaft. Deutsche Waffenfirmen bekundeten ihre Anerkennung für das Gerät und ärgerten sich, dass ein Däne schneller auf die raffinierte Idee gekommen war als sie. Waffenhändler und Vertreter von Staaten aus aller Welt hätten die Ware gerne gleich im Dutzend bestellt. Um leidige Menschenrechtsprobleme zu umgehen, schlug eine chinesische Firma vor, die Produktion von Dänemark nach China zu verlegen.
Zu dem Zeitpunkt existierte nur eine Grafik des High-Tech-Produktes. Das nun existierende und in der Villa präsentierte Modell macht jedoch deutlich, wie nah die künstlerische Fiktion an der Realität agieren kann. Das Modell trifft offensichtlich einen Reizpunkt politischer Diskussionen. Zu seinem Entstehungszeitpunkt vor elf Jahren habe er sich mit der Waffe auf Ereignisse wie das Attentat auf das World Trade Center oder das Massaker auf dem Tiananmen Platz in China im Juni 1989 bezogen, konstatiert Boeskov. „Aber ich bin kein politischer Künstler“, stellt er klar, ihm gehe es um die „Kunst als Kunst“.
Angesicht der Reaktionen auf das Ausstellungsexponat und im Zusammenhang der Ausstellung überrascht die Aussage ein wenig. Denn offensichtlich berühren die meisten der Exponate politische und soziale Bruchstellen. Das gilt auch für die gefakte Ausgabe der New York Times. Die Yes-Men haben sie produziert. „Alle Nachrichten, auf die wir hoffen“ waren darin zu lesen, zum Beispiel, dass die Besetzung des Iraks durch die Amerikaner bereits 2009 geendet habe. Oder dass die New York Times sich dafür entschuldige, Naturschutzprobleme im Wesentlichen aus ökonomischer Perspektive zu betrachten. Die Künstler verteilten die Zeitung mit einer Auflage von 80 000 Exemplaren kostenlos in mehreren amerikanischen Städten. Bei anderen Kunstaktionen agieren sie vorgeblich als Vertreter der Welthandelsorganisation WTO und propagierten als Fake eine moderne Variante neuzeitlichen Sklavenhandels. Dies sei die Lösung des Problems der Armut in Afrika. Bei derartigen Aktionen zeigt sich allerdings auch die Grenze künstlerischer Sichtbarmachung durch politische Fiktion. Denn moderner Sklavenhandel, auch aus Afrika, existiert ja durchaus. Er wird international als politisches Problem unter dem Begriff „Trafficking“ reichlich folgenlos diskutiert. Hier ist Aufklärung nötig, nicht Ironie.
Reales Leben hat mittlerweile der Franzose Ora-Ito seinen Produkten eingehaucht. Nachdem er die Grafik eines nicht existierenden Louis-Vuitton-Rucksackes im Jahre 1999 und verschiedene andere fiktive Markenprodukte auf seiner Website präsentiert hatte, erhielt er für die Fantasieprodukte Anfragen aus aller Welt. Das veranlasste Ora-Ito, der sich bis zu diesem Zeitpunkt mit abgebrochenem Design-Studium eher als Künstler verstanden hatte, flugs vollständig zur ökonomisch perspektivreicheren Design-Zunft zu wechseln und fortan zahlreiche recht erfolgreiche Produkte zu entwickeln.
Nicht nur die Produktwelt, auch die Natur sei von Trug und Imitation durchdrungen, behauptet der Kurator Friedrich von Borries. Gegenüber einem Fenster im ersten Stock der Villa zeigt die Künstlerin Beate Gütschow ein Foto ihrer Serie „LS“. Ein Landschaftspanorama, eine Familie im Vordergrund, in den Himmel ragende Bäume, im Hintergrund eine vage angedeutete Berglandschaft. „Die Landschaft gibt es so nicht, es ist eine Montage“, erklärt von Borries. Alle Kulturlandschaft sei Konstrukt, nicht nur die von der Künstlerin am Rechner zusammengebaute Gartenszene, insbesondere in Potsdam. Borries weist aus dem Fenster auf die Glienicker Brücke, auf Schloss Sacrow.
In Potsdam mit seiner mehrfach umgestalteten, von Parks und Schlössern dominierten Landschaft zeige sich geradezu idealtypisch, wie sehr die Vorstellung von Natur künstlich vom Menschen manipuliert sei. Das bestätigt die Historie. Schon Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg überspannte das Land Brandenburg mit einem Achsennetz aus Gärten und Alleen. So interpretierte er das ganze Land als seinen Garten. Durch Repräsentationsbauten wie Sanssouci habe Potsdam zu einem „Preußisch-Arkadien“ gestaltet werden sollen, bemerkt Ina Grätz, die Leiterin der Villa Schöningen. Hinweise auf die DDR-Diktatur und „das Grauen der damaligen Zeit“ seien heute nicht mehr zu finden, stellt die Kunsthistorikerin fest. Nicht zuletzt durch die Abwesenheit entsprechender Relikte werde Potsdam aber zu einem Ort, der „zwischen Realität und Fiktion“ gelegen sei. Denn die sozialistische Vergangenheit sei ja nicht verschwunden, sondern habe sich ebenso in die Landschaft eingegraben wie die kurfürstlichen Träume einer idealtypischen Gartenlandschaft. Die Villa Schöningen sei ein Ort, „der nicht alles preisgibt, was sich hier einst ereignete“.
Zu sehen bis 1. September, Do und Fr 11 bis 18 Uhr, Sa und So 10 bis 18 Uhr in der Villa Schöningen, Berliner Straße 86
Richard Rabensaat
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