Von Dirk Becker: Gefangen in der Endlosschleife
Verstörend und faszinierend zugleich: „The Postponed Project“ in der „fabrik“
Stand:
Bei der fünften Wiederholung von Gérard Griseys „Jour, contre jour“ verließ der erste Zuschauer den Saal. Bei der sechsten fing Abraham Hurtado herzzerreißend an zu schreien. Ein lang gezogenes „No“, das immer verzweifelter wurde. Doch der Musik vom Band war das egal. Da gab es weiterhin Gérard Griseys „Jour, contre jour“ zu hören. Noch ein siebentes, vielleicht auch noch ein achtes Mal. So ganz genau wusste man das nicht, denn wer sitzt schon in einer Choreographie- und Tanzvorstellung und führt Strichliste über die Wiederholung eines Liedes.
„The Postponed Project“ lautet der Arbeitstitel für die Choreographie von Abraham Hurtado, Vania Rovisco und Lígia Soares, die am Wochenende in der „fabrik“ präsentiert wurde. Eine Art Arbeitsschau im Rahmen von offenen Ateliers, bei denen die Künstler Einblicke in ihre Proben und Arbeitsabläufen gaben. Zum vierten Mal hatte die „fabrik“, das internationale Zentrum für Tanz und Bewegungskunst, Tänzer und Choreografen aus Deutschland, Spanien, Korea, Portugal, Marokko, Ecuador und Frankreich als „Artist in Residence“ in die Schiffbauergasse eingeladen, um zwei Wochen zu proben, zu forschen und sich auszutauschen. Insgesamt vier Projekte wurden am Wochenende dem Publikum vorgestellt, wobei „The Postponed Project“ das verstörendste und gleichzeitig reizvollste war.
Auf der Bühne das typische Bild für solche Inszenierungen: Bis auf eine Art Barhocker nur die große Leere. Darin Abraham Hurtado, Vania Rovisco und Lígia Soares. Hurtado, mit einer seltsamen Maske, die ein wenig an Spiderman im Strassfieber erinnerte, vollführte eine nur selten sich ändernde Choreographie mit seinen Händen, den Armen und seinem Kopf. Lígia Soares in einem verstörenden Bewegungsspiel vertieft, mal tänzerisch leicht, mal gelangweilt monoton mit ihrem Schatten spielend, während Vania Rovisco, angetan mit T-Shirt und Zebrastreifenslip, irgendwo zwischen bewusst lasziv und unruhigem Schlaf über den Boden rollte. Dazu immer wieder Gérard Griseys „Jour, contre jour“, eine Jazzimprovisation auf dem Klavier, die manchem im Publikum vielleicht schon bei der zweiten Wiederholung an den Nerven zerrte.
So saß man nun auf seinem Sitz vor der großen Bühne und schaute diesem seltsamen Treiben zu, das sich immer mehr zu einem Gefangensein von Abraham Hurtado, Vania Rovisco und Lígia Soares in einer durch die Musik gehaltenen Endlosschleife entwickelte und wartete. Beobachtete mal nur Abraham Hurtado, dann nur Vania Rovisco oder Lígia Soares, hörte genau auf die simplen, wie faszinierenden Improvisationen in Gérard Griseys „Jour, contre jour“ und ließ sich mit einem Lächeln selbst gefangen nehmen in dieser Endlosschleife. Als dann bei der fünften Wiederholung von „Jour, contre jour“ der erste Zuschauer den Saal verließ, fragte man sich, ob genau dies von den Künstlern provoziert wurde. Hurtados Performance mit Armen, Händen und Kopf war da schon immer lustloser geworden. Auch sehnte das Ende herbei.
Doch sich selbst aus dieser Endlosschleife zu befreien war ihm und Vania Rovisco und Lígia Soares nicht vergönnt. Da half auch sein Geschrei, die Flucht weiterer Zuschauer nicht. Die Musik schien wie beim Pawlowschen Hund einen bedingten Reflex auszulösen. Oder war das doch nur eine Art Geschlechterspiel, das zeigen sollte, dass Frauen mehr ertragen, Männer schneller aufgeben? Oder umgekehrt, dass Frauen ertragen, ohne zu hinterfragen, während Männer wenigstens versuchen aufzubegehren und sich dann wieder verfügen? Wobei sich dann die Folgefrage anschließt, wer hier der Schwächere ist? Der, der einfach erduldet oder der, der aufbegehrt und sich dann wieder fügt?
Ja, viel Zeit für Interpretationen ließ einem „The Postponed Project“. Und immer wieder ertappte man sich dabei, die eigenen Assoziationen zu hinterfragen und dann als zu offensichtlich und durchschaubar zu verwerfen. Vielleicht auch das eine von den Künstlern provozierte Reaktion. Abraham Hurtado, Vania Rovisco und Lígia Soares hatten während der Proben bewusst auf Interpretationen ihrer Ideen verzichtet. Aufschieben, verschieben, im Englischen „to pospone“, war die Maxime ihrer gemeinsamen Arbeit. Und immer stärker spürten sie dabei, dass dieser Verzicht auf Worte, die Beschränkung auf das Filmen der eigenen Proben und das spätere Anschauen etwas wie eine Grundlage schuf, auf dem sie fast wie selbstverständlich aufbauen konnten und mit „The Postponed Project“ ein verstörenden, ja fast ärgerlichen und zugleich auch faszinierenden Kosmos schufen.
Ähnlich aber doch immer noch verständlicher agierten Jung Sun Kim und Julia Kathriner mit ihrer Performance „(Mis)understanding“. Ein körperliches Spiel zwischen Verstehen und Missverstehen. Simona Ferrars „Mimesis“, in dem sie Gemeinsamkeiten in ihrer Familie hinsichtlich von Körpersprache und Verhalten tänzerisch nachspürt, befand sich noch in einem frühen Entwicklungsstadium, so dass die gezeigten Fragmente das mögliche Potenzial von „Mimesis“ nur erahnen ließen. Ganz anders dagegen „Fluid Dance“ von Marisa Cabal.
Was Cabal präsentierte war schönstes Spiel mit dem Tanz, ein Mischen der unterschiedlichsten Stile, eine choreographische Weltreise auf ein paar Quadratmetern Tanzboden. Ob Ballett oder Charleston, Flamenco oder der indische Tanzstil Kathak, das alles verband Marisa Cabal mit einer Leichtigkeit, mit der sie sich, augenzwinkernd, gelegentlich selbst zu überraschen schien.
Dirk Becker
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