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Von Dirk Becker: Gegen die Sprachlosigkeit

In „Wir wollten ein anderes Land“ schauen Bärbel Dalichow und Uwe-Karsten Heye auf eine „Familiengeschichte aus der DDR“ - Gestern wurde das Buch auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt

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Da sind die vielen Zwischentöne. Mal vertraut, dann distanziert. Mal erinnerungspathetisch, dann verletzlich. Mal hilflos, dann wütend. Es sind Zwischentöne einer Familiengeschichte, die bis ins Jahr 1930 zurückreicht. Zwischentöne, die gleichzeitig bis ins Heute nachschwingen und ein Loch reißen in das dicke Gewebe Sprachlosigkeit.

„Wir wollten ein anderes Land“ heißt das Buch, das Uwe-Karsten Heye und Bärbel Dalichow geschrieben haben. Die Unterzeile lautet: „Eine Familiengeschichte aus der DDR.“ Doch das Buch, das die beiden Autoren gestern Abend auf der Leipziger Buchmesse vorstellten und das dieser Tage in die Buchhandlungen kommt, ist viel mehr als das. Es ist ein Potsdam-Buch. Geschrieben von der Ur-Potsdamerin und langjährigen Direktorin des Filmmuseums, Bärbel Dalichow, und dem Neu-Potsdamer und ehemaligen Redenschreiber von Willy Brandt, Uwe-Karsten Heye. Die Familiengeschichte, die hier stellvertretend als eine Familiengeschichte aus der DDR erzählt wird, ist die Geschichte von Bärbel Dalichows Eltern und ihren Geschwistern und somit auch eine Potsdam-Geschichte.

Es ist die Geschichte ihrer Mutter Brunhilde Hanke, die im Alter von 31 Jahren Oberbürgermeisterin von Potsdam wurde und das Amt bis 1984 – 23 Jahre lang – innehatte. Es ist die Geschichte ihres Vaters Helmut Hanke, Professor für Kulturwissenschaften, der in seiner offiziellen Funktion ein begnadeter Redner war, seiner aufsässigen, unruhigen und von Gerechtigkeit so durchdrungenen Tochter gegenüber aber sprachlos blieb. Und es ist die Geschichte von Bärbel Dalichow selbst.

„Wir wollten ein anderes Land“ ist ein Buch über Ideale und Enttäuschungen, über Liebe und Verrat, über Verstehen und Verständnis, über Generationenkonflikte und über Fehler, die man macht und die man sich eingestehen muss. Gleichzeitig versucht diese „Familiengeschichte aus der DDR“ zu den Menschen, die in dieser sozialistischen Illusion lebten und fest an sie glaubten, tiefer vorzudringen, mehr von ihnen aufzuzeigen, als es die üblichen Festlegungen wie „Unrechtsstaat“ oder „Stasiland“ vermögen. „Silhouettenbilder, die man auch Vorurteile nennen kann, in tiefenschärfere Bilder verwandeln“, wie Bärbel Dalichow in diesem Buch schreibt.

Die Idee, die Geschichte vor allem der Frauen in ihrer Familie aufzuzeichnen, hatte Bärbel Dalichow schon in den 80er Jahren. Doch mit der Wende geriet sie in den „Schleudergang der Waschmaschine Zeitgeschichte“, wie sie in einem gemeinsamen Interview mit Uwe-Karsten Heye im Potsdam TV sagt. Sie stürzte nur noch nach vorn, ihre ersten Aufzeichnungen verschwanden in irgendwelche Schubladen. Der Anstoß für „Wir wollten ein anderes Land“ kam dann von Uwe-Karsten Heye.

Heye, den der oft überhebliche, westdeutsche Blick auf die DDR schon seit längerer Zeit störte, „wollte die Chronik einer Familie schreiben, die stellvertretend für viele steht“, wollte „eine gefühlte Untiefe“ deuten, die er immer wieder empfindet, wenn in seinem Freundes- und Bekanntenkreis „über die DDR und ihre Menschen gemutmaßt wird“. In der Familie von Bärbel Dalichow hat er dann die Familie für das geplante Buch gefunden.

Mehrere Stimmen melden sich in „Wir wollten ein anderes Land“ zu Wort. Briefe, Notizen und Tagebucheintragungen von Brunhilde Hanke, Briefe von DDR-Offiziellen, der Chronist Heye, der das Leben und die Ideale, die Hoffnungen und die Enttäuschungen von Brunhilde und Helmut Hanke beschreibt und die sehr persönlichen und sehr emotionalen Beschreibungen von Bärbel Dalichow, die zu den stärksten in dieser „Familiengeschichte aus der DDR“ gehören.

So beschreibt dieses Buch den Weg von Brunhilde und Helmut Hanke, zwei Arbeiterkindern, die in der DDR zu Akademikern wurden und fest und unverbrüchlich an diesen Staat glauben wollten. Aber diese beiden „Ackergäule des Sozialismus“, wie Heye sie in dem Interview nennt, müssen bald erkennen, dass die staatsoberhauptliche Wirklichkeit in der DDR in keiner Weise den gepredigten Vorstellungen entsprach. Aus den Vorzeigebürgern werden Zweifler nicht nur im Stillen, die hin- und her gerissen zwischen der Erkenntnis und ihren Zweifeln und der Loyalität zu einem Staat, der ihnen so viel ermöglicht hatte und an den sie auch weiterhin glauben wollten. Eine scheinbar unüberbrückbarer Zwiespalt, der beide zu kranken Menschen macht.

Auf der anderen Seite die Tochter Bärbel, die nicht nur kritische Fragen stellt, sondern auch Freiheiten fordert. Sie, die „querulantische Funktionärstochter“, wie sich Bärbel Dalichow in „Wir wollten ein anderes Land“ nennt, stellt sich gegen das System ihrer Eltern, plant mit Freunden die Flucht in den Westen, wird verraten – auch durch ihren ersten Ehemann – und lernt in den stundenlangen Stasi-Verhören die Schattenseiten des selbst erklärten Sonnenstaates DDR kennen. Dieser Generationenkonflikt wird zur Zerreißprobe für die Familie.

Bärbel Dalichow sagt, dass die Geschichte ihrer Familie nicht die viel bemühten DDR-Klischees widerspiegelt, trotzdem aber ein Spiegel der DDR-Gesellschaft sei. Eine Familie mit ihren Illusionen und Konflikten, durch die die gängigen „Silhouettenbilder“ in Sachen DDR-Geschichte in dem Buch von ihr und Uwe-Karsten Heye zu „tiefenschärferen Bildern“ werden. Eine Familie, in der die Sprachlosigkeit überwunden werden konnte, weil es in ihr nicht um Vorhaltungen, sondern um Verstehen geht.

Wer „Wir wollten ein anderes Land“ unter diesem Aspekt liest und dabei auf die zahlreichen Zwischentöne lauscht, dem gelingt es vielleicht auch ein kleines, ein erstes Loch in die eigene Sprachlosigkeit zu reißen.

Uwe-Karsten Heye, Bärbel Dalichow: „Wir wollten ein anderes Land“ Eine Familiengeschichte aus der DDR, Droemer Knaur Verlag, München 2010, 288 Seiten, 19,95 Euro

Dirk Becker

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