zum Hauptinhalt

Kultur: Geld und Macht und die Familie Wertevorstellungen

in der „arche“

Stand:

Ob Potsdams neuer Bürgerlichkeit tatsächlich mit Definitionen und wissenschaftlich-historischen Methoden beizukommen ist? Ihre deutliche Präsenz im Stadtbild wird ja längst diskutiert, Wert und Unwert halten sich noch die Waage. Auch die viel schauende und weit sehende „arche“ beschäftigte sich am Dienstag mit diesem Thema. Freilich bekam Ruth Wunnickes kultursoziologischer Vortrag über „Bürgerlichkeit gestern und heute“ im Pater-Bruns-Haus einen besonderen Kick, schließlich fand sich die „katholische Bildungsinitiative“, vor und nach 1989 für ihre „Gegenbürsterei“ bekannt, plötzlich im Verein der „Gutbürgerlichen“ von Potsdam wieder. Auch sie versteht sich ja als Werteträger und Wertevermittler, was so manchem nicht gefällt. Definierte die Berliner Historikerin diesen Begriff denn nicht ausdrücklich als „Vergesellschaftungsform der Mittelschichten mit ähnlichen Interessen und Wertvorstellungen“, wozu auch die Kirchen zählten?

Die Referentin unterschied eine Innen- und eine Außenseite dieser merkwürdigen Bürgerlichkeit. Außen gehe es um die Selbstdarstellung von Geld und Macht, aber auch um sichtbar gemachte Wohltätigkeit, wie man sie vom Oberlinhaus oder der Hoffbauerstiftung kennt. Allerdings gehöre auch die bewusste und gezielte Abgrenzung gegenüber anderen sozialen Schichten dazu. Nicht nur historisch, wenn man an die Bertinistraße und den Kampf um die Uferwege am Griebnitzsee denkt. Innen dann die intakte „gutbürgerliche“ Familie mit klarer Rollenverteilung und Spielregeln, die nur für diese Gesellschaftsschicht gelten. „Hefe“ für solche Aus- und Eingrenzung war immer ein Überschuss an Geld, den passenden Ausdruck dafür suchte man in Kultur und Kunst. Die Berliner Historikerin legte bei ihrem ellenlangen Akademie-Vortrag allerdings größten Wert auf „gelebte“, nicht auf nur behauptete Bürgerlichkeit, was man ganz allgemein mit „Dienst am Gemeinwohl“ übersetzen könnte. Auch davon hat Potsdam derzeit genug, man braucht nur an die Großbaustelle Am Alten Markt zu denken. Wer bestimmt eigentlich letzter Hand, was so ein „Gemeinwohl“ denn sei?

Nach dem obligatorischen Exkurs in die Geschichte und einer völlig überflüssigen Einteilung in Stadt-, Wirtschafts- und Bildungsbürger, wozu sie die ersten Wandervögel, Nacktbader und ähnliche Alternative um 1900 zählte, kam die Werteskala dieser braven Leute: Hochachtung von Arbeit und Leistung, geregelte Lebens- und Familienführung, übereinstimmende Kultur- und Bildungsideale, Vereinstätigkeit und karitativer Sinn, welcher freilich immer wieder angemahnt werden müsse. Leider vergaß Ruth Wunnicke, die treibenden Geistkräfte dahinter mitzuliefern. So blieb alles nur Phänomenologie, Oberfläche.

Wichtiger als ihr Exkurs in die Soziologie der DDR, wo sie kraft des Kulturbundes eine „neue Bürgerlichkeit“ einziehen sah, waren die Ausführungen über die Gefährdungen dieser fragilen Lebensart. Während der wohlsituierte Bürger noch im trauten Heim „Kultur und Humanismus“ pflegte, wurde draußen Realpolitik gemacht: Jede gesellschaftlich-politische Krise seit 1900 war zugleich eine existentielle Bedrohung der Bürgerlichkeit. Wie sie sich dann stets neu erhob, kann man unter „Sozialgeschichte“ nachlesen, wie das praktisch aussieht, zeigt die Kultur- und Sozialpolitik vor Ort: Potsdams „historischer Wiederaufbau“ ist nichts anderes als die ängstliche Selbstvergewisserung der und des Gutbürgerlichen von heute. Aber das sagte die Rednerin nicht, man konnte es denken. Ein schwacher Vortrag zwar, dafür ein Abend starker Impulse, wie so oft bei der „arche“. Gerold Paul

Gerold Paul

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })