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Atemberaubende Akrobatik. „Il n'est pas encore minuit“ – Es ist noch nicht Mitternacht – zeigt, was Menschen gemeinsam erreichen können.

© Christophe Raynaud de Lage / Tanztage

Kultur: Gemeinsam ist man höher

Die Compagnie XY will durch Akrobatik fröhlichen Widerstand leisten – und eröffnet die Tanztage

Stand:

Am Anfang Anarchie. Körper wirbeln ungeordnet durcheinander. Beine holen zu Tritten aus, Arme zu Faustschlägen. Körper ringen miteinander. Andere Körper fallen zu Boden. Stehen wieder auf, rennen weiter. Halb spielerisch ist das, aber vor allem aggressiv. Zu Beginn von „Il n'est pas encore minuit“ kämpft jeder auf der Bühne um seinen Platz. So sieht das aus, wenn in einer Gruppe jeder für sich kämpft. Wenn diese Gruppe keine Gemeinschaft ist, sondern eine Horde. Doch dann sortiert sich das Durcheinander. Einzelne Volten choreografieren sich zu einem gemeinsamen Rhythmus. Körper ringen nicht mehr miteinander, sondern sie halten, stützen, stapeln sich. Und erreichen so schwindelnde Höhen.

„Il n'est pas encore minuit“ von der französischen Compagnie XY wird am Mittwoch im Neuen Haus des Hans Otto Theaters die Potsdamer Tanztage 2016 eröffnen. Das Stück versammelt 22 Künstler auf der Bühne. So voll war die Bühne bei einer Eröffnungsveranstaltung der Tanztage – abgesehen von Amateurprojekten wie Isabel Schads „Still Lives“ im Jahr 2008, damals mit 41 Amateuren – noch nie. Ein Festival zeigt mit seiner Eröffnungsveranstaltung ja immer auch die Richtung an, in die es sich bewegen will. Die Eröffnung ist eine Art Versprechen, an dem sich das restliche Festival dann messen lassen muss. Was also ist das Versprechen von „Il n'est pas encore minuit“?

„Es ist noch nicht Mitternacht“, heißt der Titel ins Deutsche übersetzt, und darin verbirgt sich ein Teil der Antwort. Am Anfang des Stückes stand kein Konzept, kein theoretischer Überbau, sondern die pure Lust an der Bewegung, am Leben. „Es ist spät, aber der Abend hat gerade erst begonnen. Wir haben noch die ganze Nacht, um uns zu amüsieren!“ So erklärt Aurore Liotard den Titel. Sie ist eine der Akrobatinnen der Compagnie XY, seit 2008 dabei. Man erreicht sie eine Woche vor Beginn der Tanztage per Skype im französischen Nancy. Denn bevor die 22 Künstler und drei Begleiter die Schiffbauergasse erreichen werden, haben sie noch drei Zwischenstopps vor sich: Nancy, Saarbrücken und Darmstadt.

Potsdam, wo XY zum ersten Mal auftreten, ist für die Truppe allein 2016 die 20. Station. Das Stück entstand 2014, seitdem tourt es durch Europa. Eine Erfolgstournee: Letztes Jahr sind sie an 38 Orten gewesen. Die Compagnie wurde 2005 von sechs Akrobaten gegründet. Unter ihnen Abdeliazide Senhadji, Absolvent der staatlichen Zirkusschule südlich von Reims, heute einer der Erfahreneren in der Truppe. Aber wer bei XY nach der Leitung fragt, kommt nicht weit. Wie auch die beiden Vorgängerproduktionen „Laissez-Porter“ (2005) und „Le Grand C“ (2009) ist „Il n'est pas encore minuit“ ausdrücklich eine Gemeinschaftsarbeit. Keine Einzelregie, keine Direktion, keine Hierarchie.

Alle sind zu gleichen Teilen an der Ideenfindung beteiligt, auch XY-Mitglieder wie der Produktionsleiter Antoine Billaud, die gar nicht auf der Bühne stehen. Alle Künstler sollen sich in dem Resultat wiederfinden. Wie geht das, Basisdemokratie in der Kunst? Abstimmungen? „Nein“, sagen Aurore und Antoine, „wir diskutieren Dinge aus. Wenn jemand unzufrieden ist, dann reden wir drüber.“ Das kann dauern, natürlich. Zumal nicht alle an einem Ort wohnen und man nur im Rahmen von Residenzen zusammenkommt. An der aktuellen Produktion haben sie, mit Unterbrechungen, zwei Jahre gearbeitet. „Wir kommen durch unsere Arbeitsweise manchmal schwer in die Gänge“, sagt Antoine. „Aber wenn die Maschine dann läuft, dann sind wir nicht aufzuhalten!“

Die Weise, wie die „Maschine“ funktioniert, darf bei XY durchaus als Metapher für eine Lebensweise verstanden werden: Gemeinsam ist man langsamer, aber man kommt weiter. Und vor allem höher. Die akrobatischen Figuren von XY sind atemberaubend – drei, vier übereinandergetürmte Körper, die zusammen einen neuen, gigantischen Körper bilden. So werden Sprünge möglich, die sich die Schwerkraft egal sein lassen. Zwischen die Akrobatik hat XY tänzerische Bewegungen des Lindy Hop geschoben, eine aus den 1920er-Jahren stammende Variable des Swing. Der „Lindy“ ist relativ einfach zu lernen und gibt Tanzenden die Freiheit, Bewegungen individuell abzuändern. „Wir sind ja Akrobaten und keine Tänzer“, sagt Aurore, „daher haben wir nach einem Tanz gesucht, den man leicht lernen kann, der vor allem Spaß macht.“ Ein entspannter Gegenpol zu den potenziell halsbrecherischen Sprüngen also. Gerade gestern ist sie auf den Kopf gefallen, erzählt Aurore lachend. Das komme zum Glück aber selten vor, denn: bei 21 anderen auf der Bühne sei die Gefahr, den Boden zu berühren, verschwindend gering. Auch das ließe sich ins Leben übertragen. Wo viele Menschen zusammen sind, fallen weniger zu Boden.

Spaß und Konzentration. Rhythmus und freier Fall. Zwischen diesen Polen bewegt sich „Il n'est pas encore minuit“. Und nebenbei – oder hauptsächlich? – lässt sich beobachten, wie aus einer Horde, aus unkoordiniertem Durcheinander, etwas wächst, das man als Gemeinschaft sehen kann. Vielleicht sogar als Lehrstück über die Zauberkräfte von Aufmerksamkeit und Solidarität. Die Arbeit von XY sei ein „Akt des fröhlichen und poetischen Widerstands“, ist im Begleitprogramm zu lesen. Damit also werden die Potsdamer Tanztage 2016 beginnen.

Die Potsdamer Tanztage 2016 laufen vom 25. Mai bis zum 5. Juni. Es können rund 60 Veranstaltungen besucht werden, Aufführungen, Konzerte, Zuschauergespräche, Workshops. Alle Informationen unter www.potsdamer-tanztage.de. Die Eröffnung am 25. Mai um 19.30 Uhr ist bereits ausverkauft. „Il n'est pas encore minuit“ ist ein zweites Mal am 26. Mai um 20 Uhr im Hans Otto Theater zu sehen.

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