Kultur: „Gerdas Schweigen“
Knut Elstermann schrieb die bewegende Geschichte einer Überlebenden
Stand:
Knut Elstermann schrieb die bewegende Geschichte einer Überlebenden Von Heidi Jäger Der Ton ändert sich. Anfangs kommt er in unbekümmert-kindlicher Direktheit daher. Dann gewinnt er mehr und mehr an dramatischer Kraft, die den Atem stocken lässt und die Ereignisse kaum eindringlicher beschreiben könnte. Dabei wird nichts überhöht oder zugespitzt. Allein die schlicht benannten Tatsachen führen bis an die Schmerzgrenze. Knut Elstermann, u.a. bekannt als Radio Eins-Moderator, machte sich nach der Wende auf den Weg, um „Gerdas Schweigen“ zu brechen. Gerda, die Tante aus Amerika, die eigentlich gar nicht seine Tante war. Aber sie gehörte zur Familie dazu – bis sie von den Nazis ausgesondert und als schwangere Jüdin nach Auschwitz deportiert wurde. Ihr Kind starb dort wenige Wochen nach der Geburt. In der ganzen Familie lag ein großes Schweigen über dieses Ereignis. Bis Knut Elstermann den Schritt wagte, das Eis zu brechen. Er fuhr zur Tante nach New York, und dieser Weg führte ihn hinein in unvorstellbare Abgründe, die eng mit dem KZ-Arzt Mengele verwoben sind. Nur langsam tastete sich der Autor gemeinsam mit Gerda in das so lang Verschwiegene, Verdrängte vor – nicht immer spielte das Erinnern mit. Bruchstückhaft tauchen Details auf, für die oft Erklärungen fehlen. Was Gerda nicht mehr weiß, versuchte der Autor durch aufwändiges Nachrecherchieren in Zusammenhänge zu bringen. Die Kreise werden immer größer, ohne das Zentrum aus den Augen zu verlieren. Schließlich erzählt Gerda von der schwierigen Geburt, die sie ganz allein durchstehen musste. „,Niemand sah in dieser Zeit nach mir. Aber das Kind hat gelebt, auch wenn es winzig war.“ Es gab keine Windeln, dafür benutzte sie ein paar Streifen Papier. Sie hatte nur wenig Milch, aber neben ihr lag eine sehr kräftige Russin, die ebenfalls gerade entbunden hatte. Sie stillte nicht nur Gerdas Kind, sondern noch andere Babys.“ Doch bald wurde es der Russin untersagt, dem jüdischen Kind ihre Milch zu geben. Und Gerda konnte nicht stillen, weil ihr die Brüste abgebunden wurden – wohl mit Gips. Aber da wird das Erinnern nebulös. „Gerda musste tatenlos mit ansehen, wie das Kind neben ihr immer schwächer wurde. Dann sagte sie den Satz, der alle dramatischen Varianten, die ich jahrzehntelang kannte, in einer viel einfacheren und schrecklicheren Wahrheit auflöst: ,Es ist in meinen Armen verhungert.““ Sechzig Jahre Schweigen liegen vor diesem Satz, Schweigen vor dem Ehemann, Schweigen vor dem Sohn. Denn neben der unvorstellbaren Trauer um das tote Baby kam noch die Scham, das Kind unehelich von einem verheirateten Mann bekommen zu haben. Während Gerdas Tochter Sylvia starb, rückte die Front immer näher. „Die SS zerstörte im November 1944 die Gaskammern, um die Spuren zu verwischen. Aber im Krankenbau band jemand einer jungen Mutter die Brüste ab und ließ sie zusehen, wie ihr Kind verhungerte. Ich stelle mir Schreie und Weinen vor, aber Maren, die Hebamme, sagt mir, dass hungernde Kinder in ihrer Schwäche immer stiller werden. Dies sei ja das Gefährliche daran, dass man ihren Zustand gar nicht bemerke. Auch Gerdas Kind wurde immer ruhiger, bis es aufhörte zu atmen.“ Gerda entkam der Hölle, ihr Wille zu leben, war noch nicht erloschen. Als im Januar 1945 mit der Evakuierung des KZ begonnen wurde, schickte die SS Tausende Menschen auf Todesmärsche. „Barfuß, durch Schnee und eisigen Wind wurde auch Gerda mit einem Tross entkräfteter Frauen Richtung Bahnhof getrieben.“ Das Ziel: Ravensbrück. Gerda konnte fliehen, ein deutscher Soldat wurde ihr Retter. Knut Elstermann lässt die Geschichten von Gerda, von ihrem Retter, von der stillenden Russin und von der eigenen Familie – ganz besonders die der Großmutter – miteinander verschmelzen. Und auch er selbst nimmt ganz bewusst seinen Platz darin ein. Denn der Autor erzählt, wie diese Geschichte sein eigenes Geschichtsbild veränderte. Und auch das Verhältnis zur Zeit. „...fünfzehn Jahre vom Kriegsende bis zu meiner Geburt, fünfzehn Jahre von der Wende bis heute, die Abstände werden immer unerheblicher. Es liegt wohl an Gerdas Erzählungen und an den eigenen, sich aufschichtenden Lebensjahren, dass mir diese Vergangenheit heute sehr viel näher ist, als in den Kinder- und Jugendtagen, als ein allgemeines ,Interesse“ die Einfühlung überlagerte, als alles zum Stoff der unbekümmerten Betrachtung wurde. Es ist, als sei ein Vorhang weggezogen worden.“ Er gibt auch dem Leser den Blick frei und ist doch nicht mehr als eine Ahnung - von dem Unvorstellbaren. Knut Elstermann, „Gerdas Schweigen. Die Geschichte einer Überlebenden“, be.bra verlag, 16.90 €.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: