Kultur: Geschichte ist ein Haufen
Thomas Heise mit „Material“ in der HFF
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„Man kann sich Geschichte länglich denken, sie ist aber ein Haufen“, sagt die Kommentarstimme aus dem Off in Thomas Heises 166-minütigem Film „Material“, der am Donnerstag in der Babelsberger Filmhochschule in Anwesenheit Heises gezeigt wurde. In der Tat häuft der Dokumentarfilmer Material über- und nebeneinander, und wenn man weiß, dass Dokumentarfilmer, zumal jene, die wie Heise in der DDR ausgebildet wurden, ein Ausbund an Geduld sind, kann man diese Eindrücke nicht nur genießen, sondern in ihnen die eigene und natürlich deutsche Geschichte der letzten zwanzig Jahre Revue passieren lassen.
Jeder hat seine eigenen Erinnerungen an Heiner Müller und die Zigarren, die das Gesicht mit der starken Hornbrille vernebelten. Wenn er aber neben Regisseur Fritz Marquardt sitzt, der gerade „Germania. Tod in Berlin“ inszeniert, dann ist das ein Déjà-vu der besonderen Art. Müller gibt vor, wie „König“ zu sprechen sei. Die Kamera bleibt an ihm dran. Ruhig ist sie und gelassen, so ruhig und gelassen, wie der Autor die Bedeutung des Königs in der Aussprache der Schauspielerin, „es darf nicht so hoch gesprochen werden“, reduziert. Das ist einer der intensivsten Momente der „Material“-Sammlung, die der 1955 in Ostberlin geborene und jetzt in Karlsruhe lehrende Thomas Heise bei der Berlinale in diesem Jahr vorstellte. Aber es gibt weitere dieser Augenblicke, die zur bedeutungsvollen Ewigkeit werden, auch wenn ab und zu der Stressfuchs in uns meint, das Ganze müsse schneller über die Leinwand laufen.
Gemächlich gleitet die Kamera über die Gesichter der Beteiligten, die sich zur Krisensitzung um Regisseur Marquardt am Berliner Ensemble zusammengefunden haben. Marquardt soll sich entscheiden, ob eine Probe stattfinden wird oder nicht. Seine buschigen Augenbrauen verdecken das zerfurchte Antlitz fast komplett; der Bühnenbildner Karl Kneidl sitzt weißhaarig und hohläugig dabei, steckt sich eine Zigarette in seinen Mund, als wolle er sie essen. Die beiden haben gerade einen Streit, der die Theaterhistoriker vielleicht nach diesem Film noch einmal interessieren wird. Heise aber entwirft durch die geduldige Kamera ein Sittenbild der Zeit, ein Sittenbild einer ganz bestimmten und dabei heftig rauchenden Elite, in die sich 1989 schon ein Westdeutscher gemischt hatte. Ein Anderer spielt nervös mit einem Schlüsselbund, die Kamera hält lange auf dieses Detail, es ist ganz nah.
Alles ist schwarzweiß. Natürlich. Das war ja noch die DDR. Beziehungsweise ihre Auflösung, die Thomas Heise genau protokolliert. Im November 1989 fahren die Trabis geräuschlos in Richtung Karl-Marx-Allee, eine Hymne begleitet die Autos, die mehr als andere ein Synonym für Pragmatismus und Gestank der DDR waren und nun fast gänzlich verschwunden sind. Thomas Heise lässt viele seiner Material-Passagen kommentar- und musiklos, wenn er eines von beiden dramaturgischen Mitteln einsetzt, dann mit Bedacht und vehement. So bleibt das Bild schwarz, wenn er seine Kommentare spricht, so drängen sich die Menschenmassen am 8. November 1989 wie die Ereignisse vor dem Gebäude des Zentralkomitees, und dazu gibt es den finalen Tusch, eine sich steigernde, immer heftiger werdende Musik, die zunächst Anklänge an „Freude schöner Götterfunken“ zeigt und dann immer hektischer, lauter und dramatischer wird. Thomas Heise zieht das Ende der DDR bis in die Aktualität, indem er den Abriss des Palastes der Republik ebenfalls minutiös dokumentiert. Sehenswert, wenn man einen Sack Geduld mitbringt. Lore Bardens
Lore Bardens
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