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Kultur: Geschichte zum Fühlen, Begreifen und Hinterfragen Wibke Bruhns liest aus „Meines Vaters Land“

„Ich lese seit Monaten in fremden Leben herum, in Briefen, Tagebüchern, in Schriftlichem aus mehr als 100 Jahren, das ich zusammengetragen habe aus den Katakomben der weitverzweigten Sippe Es ist nicht wirklich fremd, was ich da lese. Ich weiß, wer die Leute sind.

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„Ich lese seit Monaten in fremden Leben herum, in Briefen, Tagebüchern, in Schriftlichem aus mehr als 100 Jahren, das ich zusammengetragen habe aus den Katakomben der weitverzweigten Sippe Es ist nicht wirklich fremd, was ich da lese. Ich weiß, wer die Leute sind. Aber ich kenne sie nicht.“ Wibke Bruhns versucht in ihrer Familiensaga „Meines Vaters Land“ auf Tuchfühlung zu ihren Ahnen zu gehen. Vor allem zu ihrem Vater, der nach dem 20. Juli 1944 von den Nazis hingerichtet wurde. Damals war sie ein kleines Mädchen. Der Vater hat ihr nicht gefehlt: „Millionen Töchter meiner Generation sind aufgewachsen ohne Väter. Ich hielt ihn mir vom Hals, wollte nichts von ihm wissen. Er war eine offene Wunde im Leben meiner Mutter, und ich habe ihn erfahren als ihren Verlust. Sie hat darüber geschwiegen. Heute weiß ich, dass viele der 20. Juli-Witwen gegenüber ihren Kindern geschwiegen haben. Es war ein Schweigen, wo Fragen sich verbot.“ Irgendwann sah Wibke Bruhns eine kurze Filmsequenz mit ihrem Vater vor dem Volksgerichtshof. Sie starrte auf diesen Mann mit dem erloschenen Gesicht – elf Tage nach diesen Bildern wird er tot sein, aufgehängt am Fleischerhaken in Plötzensee. Ganz sanft nähert sich die Tochter im inneren Dialog diesem Mann, dem sie so ähnlich sieht. Sie nimmt seine Briefe zur Hand, dringt ein in seine Sprache, in seinen Satzbau, in seine Handschrift. Ohne verklärten Blick, aber mit wachem Verstand taucht sie ein in eine ganz private Welt, in der sich die Geschichte so trefflich spiegelt. Die Klamroths sind Macher ihrer Zeit, ganz ähnlich den Buddenbrocks. Am Anfang steht ein kleines Geschäft, ein Material- und Viktualienhandel. Doch die Familie arbeitet sich hoch, mit jeder Generation schnellt sie weiter in die Oberschicht von Halberstadt hinein. Man übernimmt Verantwortung: soziale und gesellschaftliche, und als der Erste Weltkrieg kommt, geht“s mit wehenden Fahnen an die Front. Die Autorin nimmt die Fäden des reichen Familienfundus auf, und legt angereichert mit eigenen Interpretationen das Dickicht der Geschichte auf sensible Weise frei. Immer wieder stößt sie auch auf Fragen, schaut mit Unverständnis auf das stramm stehende Gefühlsgemenge, das keinen Ausbruch zulässt. Immer tiefer wird der Leser mit hinein genommen in eine schillernde Zeit, die mehr und mehr von ihrem Glanz verliert und schließlich in brauner Farbe versinkt. Auch die Klamroths lassen sich vom Virus der Größenwahns infizieren, der Vater wird Mitglied der SS, die Mutter Ortsgruppenführerin. In der Familie werden Hitlerlieder nun mit gleichen Inbrunst geschmettert wie Weihnachtslieder. Wibke Bruhns, ehemalige Stern-Korrespondentin in Israel und in den USA und bis vor wenigen Jahren ORB-Kulturchefin, spürt diesem Aufweichen bürgerlichen Anstands nach, diesem arischen Dünkel. Doch sie stellt sich nie über ihre patriotisch verbohrten Vorfahren, auch wenn sie die Pein kaum erträgt. „Ich bin der kollektiven Hörigkeit entkommen.“ Sie hatte Glück, sich nie entscheiden zu müssen. Am Ende bleibt unklar, wie aus dem ehrgeizigen SS-Mann ein Widerständler wurde. Die hinterlassenen Briefe loten nicht in die Tiefe, können nur Ahnungen auf den Weg schicken. Klar ist nur, dass der Vater verurteilt wurde, weil er seinen Schwiegersohn Bernhard nicht verraten hat. Er endete am Fleischerhaken als Mitwisser, nicht als Mittäter. Wibke Bruhns kann ihren Vater nicht mehr befragen, aber sie kann ihm auf die Haut rücken. So nah wie möglich, so distanziert wie nötig. Heidi Jäger Die Autorin liest morgen 19.30 Uhr im Kutschstall. Moderation: Kasia Kaminska vom Brandenburgischen Literaturbüro.

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