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Kultur: Geschichten hinter der Geschichte

Rund 50 Studenten suchen bei der Sommerakademie in Beelitz-Heilstätten Spuren der „Verborgenen Stadt“

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Rund 50 Studenten suchen bei der Sommerakademie in Beelitz-Heilstätten Spuren der „Verborgenen Stadt“ Von Heidi Jäger Das turmbekränzte Haus scheint von der Welt vergessen. Nur ein ausladendes Blätterdach rauscht geheimnisvoll um die versunkene Schönheit. Plötzlich sind leise Klopfzeichen zu hören. Ist es das Gespenst Hugo, den die Kinder aus der benachbarten Klinik hinter diesen heiligen „Hallen“ vermuten? Die Töne werden kräftiger. Es sind Hammerschläge, die die Stille durchschneiden. Seit wenigen Tagenhaben Studenten aus vier europäischen Kunsthochschulen das verwaiste Männersanatorium in Beelitz-Heilstätten zu ihrem Refugium auserkoren. Das mahnende Schild „Betreten verboten. Lebensgefahr“ ist vorübergehend außer Kraft gesetzt. Denn noch steht mehr das Gebäude unter Lebensgefahr als der hereintretende Besucher. Doch um die Zerstörung von dem einmaligen Areal abzuwenden, ist die Kunst als Mahner und Helfer der Beelitzer Gemeinde beigesprungen. Etwa 50 junge Leute durchkämmen unter der Überschrift „Europäische Austausch-Akademie Beelitz“ seit gut einer Woche das sich auf 200 Hektar ausstreckende Gelände, um dem Geist des geschichtsträchtigen Stadtwaldes auf die Spur zu kommen. Die dunkeläugige Estibaliz hat alte Bestellzettel für Ampullen, Adressen von Lieferanten und viele andere papierne Zeitzeugen an die Wand ihres „Ateliers“ gepinnt. Sie ist dabei, ein Archiv über das Gebiet anzulegen. „Ich mag die Geschichte, die hier so deutlich spürbar ist.“ Auf dem provisorischen Arbeitstisch liegt eine zerschlissene Kopfbedeckung mit einem roten Kreuz darauf. Die junge Spanierin versucht sich vorzustellen, wer diese Mütze getragen haben könnte, sucht die Geschichten hinter der Geschichte. Sie weiß, dass sie sich in einem ehemaligen Krankenzimmer „eingemietet“ hat, in dem vor hundert Jahren lungenkranke Patienten auskuriert wurden und in dem nach dem Krieg sowjetische Militärs ihre Patienten versorgten. Die bis zum 3. Oktober laufende Sommerakademie schaut hinter „Die verborgene Stadt“ : Jeder Student versucht auf ganz individuelle Weise, alte „Schätze“ zu heben und sie zu neuer Kunst gerinnen zu lassen. Mieke hat einige halb „verweste“ Schuhe in ihre Obhut genommen, die nun etwas verloren in der Zimmerecke liegen. Da alle ihre Kommilitonen auf Beutezug über das Gelände stromerten, wollte auch sie eine tüchtige Sammlerin sein und nicht ohne Fundstücke zurück kehren, obwohl ihr diese Relikte eigentlich viel zu schmutzig sind. Viel lieber geht die Holländerin den Dingen per Videokamera auf den Grund. Das ist ihre Art des Sammelns. Sie zeigte sich jedoch keineswegs erschrocken über die sehr spartanischen Arbeitsbedingungen: über die kaputten Fenster, den bröckelnden Putz, die blätternde Farbe ... „Ich hatte erwartet, dass alles noch viel toter ist. Es gibt zwar keine Bewohner mehr, aber man spürt dennoch Bewegung.“ Dass sich Mieke bei der Verteilung der Räume gerade diesen auswählte, hatte mit den verschiedenen Schichten und Oberflächen zu tun, die sie hier vorfand und die ihre Neugierde weckten. Ihre beiden Nachbarn Maarten und Wonter, die wie sie in Amsterdam studieren, haben sich erst einmal eine Tischtennisplatte zurecht gezimmert. Eine mit Papier umwickelte alte Duschleitung liegt quer über die alte Holzplatte und dient als „Netz“. Beim Ping-Pong-Spiel wollen die Studenten ihre derzeit etwas miese Stimmung wieder hochtreiben. Sie haben schon recht konkrete Vorstellungen, was sie in die große Abschlussausstellung einbringen möchten: Ein Mikadospiel aus entwurzelten und umgeknickten Bäumen. Mit einem Kran wollen sie die Riesen-„Stäbe“ auftürmen lassen. Ihr hilfesuchender Blick geht zu Erik Bruinenberg, der als Projektleiter der Mann für alle Fälle ist. Das beginnt beim Kaffeekochen, Einkaufen und Tomaten schneiden und erstreckt sich bis zum Schlichten aufkeimender Konflikte, wenn beispielsweise die einen die Nacht zum Tag machen und die anderen lieber ihren Schlaf ungestört auskosten wollen. Erik Bruinenberg steht den täglichen Problemen recht gelassen gegenüber, Heimweh sei ebenso normal wie das Rebellieren gegen Ungewohntes, das nicht den eigenen Maßstäben entspricht. So haben belgische Studenten ihr eigenes „Offizze“ eingerichtet, weil sie mit der Versorgung nicht einverstanden waren. „Man muss bloß aufpassen, dass man nicht zum Buhmann wird. Keinesfalls möchte ich den Polizisten spielen, eher gehe ich nach Hause.“ Bis zu einem gewissen Punkt müsse man die Konflikte auch eskalieren lassen, ist sich Bruinenberg sicher. Nicht er möchte die Regeln aufstellen, sondern die Studenten selbst sollen es für sich tun. Jesse und Alex aus Leeds fühlen sich in der auf Improvisationstalent ausgerichteten Akademie offenbar pudelwohl. Sie haben sich ihre Fenster mit Zweigen zugebaut, eine Art Festung errichtet. „Wir hatten anfangs das Gefühl, mitten im Wald zu wohnen. Aber es gibt doch einige Straßen.“ Um ihre Erwartungen zu beschützen, bauten sie sich eben ein. Geht man durch die dunklen Gänge, die eine knisternde Spannung verströmen, weiß man nicht mehr, was zufällig reingeweht oder schon Kunstobjekt ist. „Am Ende wird alles komplett anders sein“, ist sich Erik Bruinenberg sicher. Nach und nach wird in den Räumen Strom gelegt, eine Studentin sitzt in einem der langen Gänge über ihre Nähmaschine gebeugt und lässt leise die Nadel über die bunten Stoffe schnurren. Einer der vielen Räume sieht schon richtig poliert aus. Hier hat sich René van Gysegem einquartiert, einer der Dozenten von der Hochschule Gent. Als der Belgier von seinem Rektor gefragt wurde, ob er die Sommerakademie in Beelitz begleiten würde, wehrte er anfangs innerlich ab. „Obwohl durch Kurse in Tschechien, USA, Holland, England oder Frankreich projekt-getrimmt, dachte ich inzwischen zu alt dafür zu sein. Ich neige dazu, immer so tief in eine Sache einzutauchen, dass ich mir selbst gegenüber rücksichtslos werde.“ Es habe eine lange Zeit gegeben, wo er die gleiche Musik hörte wie seine Studenten, die gleiche Kneipe besuchte. „Jetzt ist es nicht mehr dasselbe. Ich bin jetzt ,richtiger’ Dozent geworden.“ Dennoch ließ er sich auf Beelitz ein und nimmt das Wort Heilstätten sehr wörtlich. „Kritiker sagen, dass meine Arbeit therapeutisch ist.“ Der bewussten und unbewussten Kommunikation gilt sein besonderes Augenmerk. Bei der ersten Begegnung mit dem Beelitzer Umfeld sei ihm natürlich sofort die Reha-Klinik aufgefallen, in der auch ganz junge, unfallgeschädigte Leute behandelt werden, die oft sehr depressiv seien. Sie mit Hilfe der Studenten und ihrer Kunst fröhlicher zu machen, reize ihn besonders. Der vor allem mit Videotechnik arbeitende Lehrer interessiert sich für die oft fließenden Grenzen zwischen Lüge und Wahrheit und auch für die Märchenidee der Kinder um das Gespenst Hugo und der bösen Marie. René van Gysegems lichtdurchfluteter Raum könnte zum Sammelbecken junger Geschichten in einer alten architektonischen Geschichte werden. Die kommenden Wochen lassen indes noch viele Überraschungen zu. Die Sommerakademie europäischer Kunsthochschulen wird vom Kulturland Brandenburg gefördert und geht bis zum 3. Oktober. Zum Abschluss gibt es eine Ausstellung mit den Arbeiten der Studenten und Dozenten.

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