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Kultur: „Gewalt ist für das Mädchen Normalität“

Angelika Klüssendorf hat mit „Das Mädchen“ einen schmerzhaften Roman über eine Kindheit in der DDR geschrieben – Am Sonntag liest sie in Potsdam „Schreiben hat nichts mit Leid und nichts mit Freude zu tun. Es ist einfach nur Arbeit.“

Stand:

Frau Klüssendorf, ab welchem Alter hören Bücher auf, für uns ideale Fluchtmöglichkeiten aus dem Alltag zu werden?

Ich glaube, Bücher hören nie auf, ideale Fluchtmöglichkeiten für uns zu sein. Selbst mit 80 können wir bestimmte Bücher noch als eine solche Fluchtmöglichkeit sehen.

Der namenlosen Heldin in Ihrem Roman „Das Mädchen“ dienen Bücher oft als einzige Fluchtmöglichkeit aus einer Kindheit, die man schon gar nicht mehr als nur hart bezeichnen möchte.

Ach, belassen wir es ruhig bei der harten Kindheit.

Eine harte Kindheit in der DDR, in der sie von ihrer Mutter fast täglich verprügelt und drangsaliert wird, es bei ihrem Vater nicht aushält und später auch im Kinderheim nicht zur Ruhe kommt. Ist Hoffnung überhaupt eine Kategorie in Ihrem Buch?

Auf jeden Fall. Wenn sie die Bücher liest, ist das nicht nur eine Flucht aus dem Alltag, sondern eine Gegenwelt, in der sie sich aufhält. Und in dem sie mehr zu Hause ist als in ihrem wirklichen Zuhause.

Lesen auch als eine Art Überlebensstrategie, um nicht an der Wirklichkeit zu zerbrechen und gegen ihre verzweifelte und äußerst brutale Mutter bestehen zu können?

Das könnte man so sehen. Das Mädchen überlebt ja ganz gut. Sie nimmt sich in diesem System das, was sie braucht. Und da nehmen die Bücher natürlich einen großen Stellenwert ein.

„Das Mädchen“, das im vergangenen Jahr auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, ist geprägt von Gewalt, Alkohol, Sadismus, Gefühlskälte und Lebenslügen. Ist dieser Roman auch als eine Art Milieustudie angelegt?

Nein, es ist zwar enthalten. Aber ich habe das nie bewusst als eine Milieustudie angelegt. Die soziologischen Sichtweisen haben mich weniger interessiert.

Aber es geht um Perspektivlosigkeit und Widerstand.

Widerstand ja, Perspektivlosigkeit nein.

Warum nur Widerstand.

Weil sich das Mädchen ständig im Widerstand befindet. Es ist nie ein Opfer. Daher hat das alles auch nichts mit tränenseliger Elendspoesie zu tun. Wenn das Mädchen im Keller sitzt, in den sie regelmäßig von ihrer Mutter gesperrt wird, entstehen da ja fantastische Welten, die sie entwirft, weil sie alte Bände von „Brehms Tierleben“ zur Verfügung hat. So schafft sie sich in jeder erst einmal ausweglos erscheinenden Situation doch noch einen Ausweg. Denn sie begibt sich in Gegenwelten, in die Welt der Bücher, aus denen sie auch ihre moralischen Instanzen schöpft. Sie liest Märchen, erkennt, was gut und böse ist und bringt sich das alles selbst bei.

Obwohl sie ja selbst auch zur Täterin wird, die Unterscheidung zwischen gut und böse, richtig und falsch bei ihr verschwimmt.

Was ja auch in den Märchen, die sie liest, vorkommt. Gewalt ist für das Mädchen Normalität, denn das Mädchen hat nichts anderes gelernt und deswegen setzt sie diese dann auch ein, um sich zu verteidigen, um zu überleben.

In einer Szene provoziert das Mädchen die Mutter so lange, bis sie von der verprügelt wird.

Das ist eine sehr wichtige Stelle. Hier dreht sie die Rolle um. Sie provoziert die Mutter so lange, bis die zuschlägt. Das Mädchen wird in dem Augenblick auch zur Täterin.

Das zeichnet „Das Mädchen“ aus: Es gibt keine klaren Kategorien, hier kann nicht einfach nur von Opfern und Tätern gesprochen werden.

Ja, ich habe versucht, das alles nur mit den Augen des Mädchens zu betrachten. Und dieses Mädchen, das am Anfang des Romans 12 Jahre alt ist, hat noch keine psychologischen Kategorien. Für sie ist die Mutter nur die Mutter.

Warum ein solches, doch sehr schonungsloses und brutales Thema für einen Roman?

Die Gestalten am Rande, die Außenseiter interessieren mich mehr als die, die auf den ersten Blick unproblematisch erscheinen.

Mussten Sie für diesen Roman recherchieren, um die beschriebenen Verhältnisse so realistisch beschreiben zu können?

Ich beschreibe durchaus mir vertraute Verhältnisse, ein vertrautes Terrain, obwohl der Roman in keiner Hinsicht ein autobiografischer ist.

Was genau meinen Sie mit vertraute Verhältnisse, vertrautes Terrain?

Ich bin im Kinderheim aufgewachsen. Insofern wirkt das, was ich darüber in „Das Mädchen“ erzähle, in gewisser Weise vielleicht authentisch.

Beim Lesen von „Das Mädchen“ stellt sich sehr oft das Gefühl ein, als würde einem selbst weh getan. Ist das ein Kriterium für Sie beim Schreiben, dass Sie an Grenzen gehen müssen, dass es auch Ihnen weh tun muss?

Überhaupt nicht. Schreiben hat nichts mit Leid und nichts mit Freude zu tun. Es ist einfach nur Arbeit und die Emotionen stellen sich nur ein, wenn mir die Sätze nicht gelingen.

Aber sonst überhaupt keine Regungen?

Ja doch, es gibt da schon mal Augenblicke. Aber das Erlebte zerfällt in die Bestandteile der Sprache.

Und ein Bewusstsein dafür, dass das, was Sie schreiben, was Sie in eine sehr klare und knappe Sprache packen, dem Leser weht tun könnte?

Nein, auch das nicht. Ich möchte diese Romanfigur in ihrer Sprache so gemäß wie möglich darstellen. Darum die dritte Person, die für Distanz und das durchgängige Präsens, das für Nähe sorgt. Auch das Innen- und Außenperspektiven nicht voneinander zu unterscheiden sind.

Sie haben die Geschichte von „Das Mädchen“ in der DDR angesiedelt. Ist das Ihren eigenen Erfahrungen in der DDR geschuldet?

Das liegt einfach daran, dass dies die mir vertrauteste Umgebung ist. Denn wenn man eine Kindheit beschreibt, beschreibt man als Schriftsteller meist die Orte, an denen man aufgewachsen ist. Aber ich denke, diese Geschichte von dem Mädchen in diesem Buch könnte in den 70er oder 80er Jahren auch in Westdeutschland spielen. Das ist nicht an die DDR gebunden.

Nicht einmal nur an die 70er oder 80er Jahre. Das, was Sie erzählen, kann genauso heute passieren.

Ja, ich wollte kein Buch über die DDR, sondern ein Buch über das Mädchen schreiben. Dass dabei bestimmte, gesellschaftliche Verflechtungen angesprochen werden, das gehört in diesem Roman dazu.

Die Heldin bleibt in diesem Roman namenlos, bis auf Spitznamen immer nur „Das Mädchen“. Ein Roman also für alle Mädchen, die solche Erfahrungen machen mussten und müssen?

Ja, mich hat interessiert, wie dieses Mädchen, dieses Geschöpf unter diesen Umständen aufwächst, wie sie da, beschadet und unbeschadet, wieder herauskommt.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Angelika Klüssendorf liest aus ihrem Roman „Das Mädchen“ (Kiepenheuer und Witsch Verlag, 18,99 Euro) am morgigen Sonntag, um 11 Uhr in der Reihe „Literarischer Salon“ in der Villa Schöningen, Berliner Straße 86. Der Eintritt kostet 12, ermäßigt 10 Euro

Angelika Klüssendorf, geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung in die BRD 1985 in Leipzig. Ihr erster Erzählband „Sehnsüchte“ erschien 1990. kip

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