zum Hauptinhalt

Kultur: Grenzerfahrung

In drei Tagen wurde in Teltow für einen neuen Grenzübergang eine Bresche in die Mauer geschlagen. Die Eröffnung war eine der letzten Amtshandlungen von SED-Bürgermeister Manfred Graulich Von Henry Klix

Stand:

Die Stimmung war rau. Manfred Graulich war am Abend des 9. November bei einer Bürgerversammlung. Bewohner des neuen Plattenbauviertels am Ruhlsdorfer Platz hatten sich beschwert, weil sie nur mit Gummistiefeln zu den Hauseingängen kamen. Bürgermeister Graulich wollte einen Ausblick geben, wie es weitergeht mit Wegen und Grünanlagen. Die Versammlung war anstrengend, erinnert er sich. Zu Hause fiel er ins Bett, hörte erst am Morgen die absonderlichen Nachrichten von Trabis auf dem Tauentzien und der Pressekonferenz mit Günter Schabowski vom Zentralkomitee. Die Volkspolizeikreisämter seien angewiesen, ohne Ausreisevoraussetzungen Visa zu erteilen. „Das tritt nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich“, sagte Schabowski da.

Teltows Bürgermeister, seit seiner Studienzeit Marxist und SED-Mitglied, begriff nur langsam, was passiert war. Die Ausreisewelle, die Lügen darüber, Neues Forum, Demos, Honeckers Rücktritt – dass etwas in Gang gekommen war, habe jeder gespürt. „So konnte man mit den Leuten nicht umspringen, es musste sich was ändern.“ Doch mit der Grenzöffnung hatte so schnell niemand gerechnet. Graulich ging zur Arbeit, war froh, dass seine Mitarbeiter im Rathaus waren. Denn ihm war klar, dass heiße Zeiten bevorstehen.

Die Ereignisse überschlagen sich an diesem Freitag. Der neue Generalsekretär Egon Krenz spricht von einer „zugespitzten Lage“. Werktätige würden die Betriebe verlassen, hochwertige Konsumgüter verstärkt abverkauft. Der sowjetische Botschafter interveniert, Katzenjammer im Politbüro. Stasi und NVA werden in Bereitschaft versetzt, bevor am Abend der sowjetische Außenminister Schewardnadse die Maueröffnung zur „ureigenen Angelegenheit“ der DDR erklärt. Hunderttausende stürmen die wenigen Grenzübergänge. Schließlich entscheidet der amtierende Ministerrat, bis zum 14. November weitere zu öffnen. Ein gutes Dutzend sollen es im selben Jahr rund um Westberlin noch werden.

Der Beschluss erreicht Manfred Graulich per Anruf aus dem Rat des Kreises Potsdam-Land. „Manfred, bei dir wird in der Philipp-Müller-Allee (heute Lichterfelder Allee, d. A.) ein Grenzübergang geschaffen. Du musst morgen da hin zur Besprechung.“ Doch Graulich muss an jenem Samstag zur SED-Kreisdelegiertenkonferenz, er schickt seinen Stadtbaudirektor. „Das Ziel bestand tatsächlich darin, am 14. November alles fertig zu haben“, erfährt er am Abend. Da laufen die Arbeiten für den neunten neuen Grenzübergang schon.

Der Kleinmachnower Fotograf Bernd Blumrich schreibt in seinem Wendebuch „Linienuntreue“ (Lukasverlag 2007) von den Ereignissen: Wie ein Reißverschluss habe sich Samstagmittag auf Berliner Seite der Steckmetallzaun geöffnet. Aus dem Spalt treten im dunstigen Gegenlicht Grenzsoldaten, markieren das DDR-Territorium mit Absperrband. Erde und Sträucher werden abgetragen, Schaulustige machen mit. Auf Blumrichs Fotos sind Bürger und Soldaten beim Schaufeln und mit Thermoskannen beim Kaffeetrinken zu sehen. Hier und da liegt man sich in den Armen.

Alte Seehofer erinnern sich an ein obskures Mauerbild: Wegen einer höhergelegenen Wendeschleife auf der Westseite der Grenzanlagen hatte es so ausgesehen, als wenn die Westberliner Busse auf der Mauerkrone entlangfahren. Sonntagnachmittag ist es damit vorbei, werden die Betonelemente auf Teltower Seite entfernt. Feuerwehrleute aus Kleinmachnow packen mit an, eine Grünanlagenfirma. Dann ist der Blick frei.

Man habe nach der „chinesischen Methode“ gearbeitet, so Graulich: „Ein Mann, hundert Tage, hundert Mann, ein Tag.“ Der Mauerabriss sei noch die leichteste Übung gewesen: „Kabel und Leitungen mussten umverlegt, die Straßenfläche mit Unterbau neu hergestellt werden.“ Am Montag gibt es wieder die alte Straßenverbindung, Mitternacht eine inoffizielle Eröffnung. Graulich geht zu einem Westberliner Polizisten: „Ich bin Bürgermeister der Stadt Teltow. Bitte übermitteln Sie dem Bezirksbürgermeister von Steglitz meine Grüße und sagen Sie ihm, dass wir uns morgen früh um 8 Uhr zur Grenzöffnung treffen.“ Der Polizist habe wie eine Salzsäule gestanden.

Am 14. November ist Bernd Blumrich dabei. Er fotografiert, wie eine Abordnung von SED- und NVA-Offiziellen mit Graulich etwas hölzern die Grenze passiert, wie sich die Stimmung löst, als sie von Klaus-Dieter Friedrich, dem Steglitzer Bürgermeister, herzlich begrüßt wird. „Diese Straße verbindet wieder“, sagt Friedrich. Bis zu seinem Tod im Jahr 2000 bleibt er mit Manfred Graulich in Kontakt. „Obwohl er in der CDU war, haben wir uns sofort verstanden.“ Der Tag entwickelt sich zum Fest, Teltower gehen mit Blumensträußen rüber. Ein Transparent mit einem Olsenbande-Zitat ragt aus der Menge: „Mächtig gewaltig, Egon.“ Der Rias schickt einen Reporter in den HO-Laden auf Teltower Seite: Er interviewt Westberliner, die sich anstellen, um Brötchen, Brause und Club Cola zu kaufen. Eine HO-Verkäuferin erklärt dem Radiosender ernst, dass für das gezahlte Westgeld der Umtauschsatz Eins-zu-Eins gelte.

Graulich ist damals elf Jahre Bürgermeister. Es habe in der DDR Funktionäre gegeben, mit denen man reden konnte und andere, er nennt sie „Wadenbeißer“. Er habe in dieser Gemengelage versucht, menschlich zu sein, habe sich geärgert, dass die SED den Bürgern keine Spielräume einräumte, habe nach der Wende aber auch nicht so getan, als wenn er nicht zum Apparat gehörte – mit all seinen Verwerfungen. Der Rathausetat zur Pflege der Grenzanlagen – die Stadt musste dafür sorgen, dass Gehölze und Unkraut nicht die Sichtachsen zwischen den Grenztürmen zuwuchern – sei so üppig gewesen, dass man gelegentlich für wichtige Zwecke etwas abzweigte.

Den Verfall der Teltower Altstadt konnte Graulich trotzdem nicht verhindern. Immerhin wurde auch nichts aus den Plänen, sie durch ein  Neubaugebiet zu ersetzen. Dass die Altstadt heute saniert ist, darüber freut sich heute auch der frühere SED-Bürgermeister. Im Grunde seines Herzens sei er aber links geblieben, sei sich bewusst, dass jeder die Wendezeit anders erlebt habe. „Die Wendehälse haben mich am meisten geärgert.“

Als in anderen Kommunen zum Jahresende Runde Tische tagten, in Teltow niemand aktiv wurde, sei er zur Pfarrerin gegangen, habe schließlich selbst zum ersten Runden Tisch eingeladen, vor allem, wie er einräumt, um seiner Rathausmannschaft den Job zu retten. „Dass ich gehen muss, war mir klar.“ Es gab Vorwürfe, weil der Potsdamer Ex-Oberbürgermeister Seidel in der Teltower Wohnungsverwaltung untergekommen war, weil Werbeschilder am Teltowkanal hingen und ein Ratssekretär bei einem Joint-Venture-Lehrgang war. Eine alte Freundschaft rettet ihn, ein Studienfreund, dem er trotz Ausreiseantrag 1985 die Treue gehalten hatte. Im Frühjahr 1991 sorgte derselbe Freund dafür, dass Graulich nach einem Jahr Arbeitslosigkeit einen beruflichen Neustart in seinem alten Berufsfeld als Bauingenieur im Wedding bekam.

Der 77-Jährige steht an der Stelle in der Licherfelder Allee, wo die Grenze war, am Ortseingangsschild von Berlin. Er zeigt, welche Häuser standen, welche neu sind, wie breit das Grenzgebiet war, wo die letzte Ostkneipe stand. Und er zeigt, wo in jenen turbulenten Tagen noch flugs die weiße Linie gezogen wurde – bevor Tausende den neuen Teltower Grenzübergang stürmten. Noch monatelang habe dort ein Grenzsoldat auf einem Stuhl gesessen und reglos beobachtet, wie Autos und Fußgänger den Grenzübergang passierten.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })