Kultur: „Haut ab, ihr Zigeuner!“
Die Stadtspieltruppe gastierte mit ihrem Stück „Männer“ im Knast von Wriezen
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Wer heutzutage bestehen will, muss sehr mobil sein, denn seit 1990 wird ja mit dem „Überleben“ richtig ernst gemacht.
Die Stadtspieltruppe von Wilfried Mattukat ist mit den neuesten Verteilungskämpfen im Rathaus in Bedrängnis wie auch in Zugzwang gekommen. Ihre derzeitige Sorge tragen sie nicht nur auf ihren T-Shirts – „Theaterschiff Potsdam muss sein“ – sondern auch in die Welt. Diese Woche organisierte das Ensemble zwei ungewöhnliche Gastspiele über Land, um seine erfolgreiche Inszenierung „Männer“ von Franz Wittenbrink dorthin zu tragen, wo sie das Regieteam von Constanze Nickel und Sebastian Günther Birr sowieso ansiedelten, im Knast. Am Mittwoch fand eine Aufführung in Brandenburg statt, welche die Spieler tief bewegte. Das Publikum, mehr oder weniger gereifte Männer, reagierte vor allem auf die leisen Töne, und beim anschließenden Gespräch war man auch bereit, über sich und das Gesehene zu sprechen. Tags darauf ging die Fuhre zur JVA Wriezen, kurz vor der Oder.
In diesem Neubau ist alles modern und dezent gehalten, sichere Kontrollen, übersichtliche Areale, viele Sportanlagen für die 190 Gefangenen, zu denen noch 30 im „offenen Vollzug“ kommen. Diese Theatervorstellung war der erste „Fremdauftritt“ innerhalb der Zäune und Mauern, sonst gibt sich die Gefängnis-Pädagogik alle Mühe, die Straftäter (bis 24 Jahre) mit Sport und thematischen Veranstaltungen zu rekultivieren. Mehr Theater gehe nicht, sagte JVA-Chef Vogt, es sei der Öffentlichkeit nicht zu verklickern, warum man den Insassen (acht von zehn kommen wieder) Kultur finanzieren sollte, während „draußen gestrichen“ wird.
Zu Wittenbrinks Schlagerrevue kam nun „das ganze Spektrum“ dieser JVA, Mörder, Gewalttäter, Diebe, Vergewaltiger, etwa 50 Besucher, allesamt freiwillig.
Sie reagierten bei der sehr kontrastreich gearbeiteten Inszenierung auf einen anderen Teil als die Brandenburger Häftlinge: auf den lauten, direkten, das, was wohl auch ihres ist. Kämpfe der fünf Darsteller beim Schauen der Fußball-WM untereinander, Johlen, als die Wunschfigur der Wärterin (Julia Struwe) den Mitspielern ihre Bluse öffnet, heftige Zustimmung in der Kiff-Szene auf der vergitterten Guckkasten-Bühne, Beifall beim Wiederholen der „Kleinen Nymphomanin“. Es dauerte zwar etwas, bis der Funke überschlug, aber die Vorstellung war ein voller Erfolg. Vergessen jener Ruf „Haut ab, ihr Zigeuner!“ über den Weg, als man in der Sporthalle noch beim Aufbauen war. Als die Kolonne abends das Gelände verließ, hörte man Pfiffe und andere ernst gemeinte Dankesbekundungen.
Das Gespräch zwischen Aufführung und Abreise war (in Anwesenheit eines TV-Kameramannes) für beide Seiten höchst aufschlussreich, locker und intensiv. Die Theaterleute entschuldigten sich geradezu, den Gefangenen vorzuführen, wie „Knast ist“, indes die Gegenseite ihnen den Wahrhaftigskeits-Gehalt der Inszenierung bestätigte.
Es sei aber, so die dezent begleitende Gefängnis-Pädagogin, „die Creme der Creme“, welche zum Reden blieb, jene darunter, die sich um eine recht umfangreiche Zeitung (Auflage 180 Stück) bemühen. Einer erkundigte sich sogar, ob „man“ bei der Stadtspieltruppe anheuern könne. Jemand anders will sogar erkannt haben, welche Gründe die einzelnen Figuren ins Gefängnis trieb: Der eine wird „eine Kuh erschossen“ haben, so seine Mutmaßung. Die Darsteller wurden gefragt, ob sich jetzt „das Bild von den Insassen geändert“ habe. Man einigte sich auf „Knastis sind auch nur Menschen“. Die Truppe um Conanze Jungnickel und Christian Kozik (musikalische Leitung) konnte wirklich zufrieden sein.
Danach schweißtreibendes Abbauen, nach Potsdam zurück, um nach Mitternacht die beiden Busse auszuladen – und ans berufliche Tagewerk zu gehen. So ist das bei den Amateuren.
Vielleicht werden solche Einsätze von den Offiziellen zu wenig gewürdigt. Nach dem Besuch der Stadtverordneten entstand bei den Stadtspielern ja gelegentlich den Eindruck, als würde manche Vorlage gar nicht gelesen, manches ohne genügende Sachkenntnis entschieden.
Am morgigen Sonntag haben nun alle Volksvertreter Gelegenheit, anhand von „Was Ihr wollt“ zu prüfen, ob der Slogan „Theaterschiff Potsdam muss sein“ auch seine Richtigkeit hat. Man sollte das sehen.
Gerold Paul
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