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Kultur: Herdentiere

Nachspielzeit und Die Schafe bei den Potsdamer Tanztagen

Stand:

Der 8. Juli 1982 war ein schwarzer Tag für die Franzosen. Es war der Tag, an dem sich die französische Nationalelf in Sevilla aus ihrer Außenseiterposition in eine fühlbare Nähe zur WM-Endrunde spielte, zwischenzeitlich gar 3 zu 1 in Führung lag, und im Elfmeter dann doch gegen Deutschland verlor. Ein Tag der großen Hoffnung und des Absturzes, um so schmerzhafter, da die Fallhöhe so unerwartet hoch war. Im Grunde geradezu aristotelisch tragisch: Obwohl die Franzosen, wie es heißt, das bessere Spiel geliefert haben, mussten sie vor einer schicksalsgleichen Macht kapitulieren. Gnadenlose, ungerechte Welt.

Der französische Choreograph Pierre Rigal hat das dramatische Potenzial des Sports erkannt und den 8. Juli 1982 in ein Tanzstück umgearbeitet. „Arrets de Jeu“ (Nachspielzeit) heißt das Stück, das am Samstag im Rahmen der Tanztage an der fabrik seine Deutschlandpremiere feierte. Sevilla beschreibt Rigal als Ursprung eines Traumas, das den Franzosen noch heute in der Seele brennt. Er selbst war neun, als er das Spiel im Fernsehen sah und erinnert sich, es als „unglaublich ungerecht“ und Horst Hrubesch, den Schützen, der Deutschland ins Finale schoss, als Monster empfunden zu haben. Das klingt kindlich und soll es auch sein: Nicht um eine erwachsene, distanzierte Haltung gehe es ihm in seinem Stück, sondern um die kindliche Begeisterung, Enttäuschung und Wut von damals.

Tatsächlich ist, was auf der Bühne geschieht, keineswegs die bierernste oder gar bittere Darstellung, die man bei einem „nationalen Trauma“ vermutet. Vor allem im ersten Teil lässt Rigal nicht durch Gefühlsdrüse, sondern durch sanfte, liebevolle Ironie die Erinnerung hochleben. Pierre Rigal, Alain Lelouch, Grego Edelein und Elena Borghese – alle in weißem Sportleroutfit, mit Stulpen, Turnschuhen und Knieschützern – tanzen ein virtuoses Bilderbuch der Sportzitate: Sie dribbeln, sprinten, setzen an zum Schuss, üben Siegerposen, schütteln Fäuste, heben abwehrend die Handflächen, springen nach Kopfbällen, jubeln in überbordender Freude. Fragmentiert, aus dem Kontext der Stadionseuphorie gerissen, wirkt diese Bewegungspalette drollig, überzogen – aber gleichzeitig werden die getanzten Emotionen, die Grimassen der Anstrengung, Erregung, Freude nicht ausgestellt, sondern gefeiert.

So ist „Arrets de Jeu“ einerseits eine wunderbare Hommage an den Stadionstaumel, an die sportliche Bewegung – nur will es noch mehr sein. Der 8. Juli 1982 war nämlich auch der Tag, an dem der deutsche Torwart Harald Schumacher den Franzosen Patrick Battiston so schlimm foulte, dass der bewusstlos zusammenbrach. Während Battiston vom Feld getragen wurde, ging das Ringen um den Sieg ungehemmt weiter – was einen der Spieler im Nachhinein zu dem Kommentar veranlasste, an jenem Tag seien alle Beteiligten zu Monstern geworden. Diesen Gedanken nimmt Rigal zum Anlass, um im zweiten Teil seine Tänzer in unförmige Watteuniformen zu packen und als unbeholfene Rieseninsekten blind über die Bühne stolpern zu lassen. Sicher: Eigennutz und Mangel an Empathie machen den schönsten Sport zum Tollplatz hässlicher Bestien. Was als Idee funktioniert, gerät auf der Bühne jedoch zum Dämpfer. Die im besten Sinn sportive Energie, die bis hierhin das Stück getragen hat, wird im letzten Drittel durch die unförmigen Kostüme und stagnierenden Bewegungen verdrängt. Schade: Was rhythmisch und humorvoll begann, schließt mit einigen Längen. So geht ein bewegungstechnisch wunderbares Stück arg kryptisch, mit einer Ansammlung weißer Trauerklöße in Mehlsackgewändern zu Ende.

Einen anderen Kommentar zum Thema Bestialität gab die kanadische Kompanie Corpus. „Die Schafe“ heißt ihre so kleine wie schlüssige Installation, die sie auf dem Vorplatz des Brandenburger Tors aufgebaut hatten. Sie funktioniert so: In einem Gehege stehen drei Schafe (Alisha Strangers, Anika Johnson, Jaimee Horn) und gucken sich an, wie sie angeguckt werden. Fressen ein Salatblatt, erleichtern sich, glotzen, blöken in die Runde und lassen die Zuschauer machen, was sie wollen – füttern, streicheln, lachen. Wenn man dem länger zusieht, ist das nicht nur sehr komisch, sondern bringt auch auf wunderbare Weise den Titel ins Wanken: Wer sind hier eigentlich die Schafe? Eines der Hauptmerkmale, den Herdentrieb, gibt es auf beiden Seiten des Zauns – nicht zuletzt im Theater kann man ihn gut beobachten. Oder eben im Fußballstadion.

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