
© Andreas Klaer
Von Heidi Jäger: „Hier ist Leben!“
Helge Hübner leitet das „nachtboulevard“ in der Reithalle A: ein Ort zum Klönen, Feiern, Diskutieren
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Dieses Pferd prescht voran, dass es Funken schlägt. Ob das Publikum dem stilisierten kopflosen Vollblüter in seinem Flug folgen wird, liegt vor allem an Helge Hübner. Er hält mit seiner vierköpfigen Crew die Zügel für das „nachboulevard“ fest in der Hand, gibt aber auch die lange Leine, um möglichst viele Potsdamer mit ihren Ideen aufsatteln zu lassen.
Ort der galoppierenden Kunstfigur ist die Reithalle A: dort, wo bis Ende Juni noch das Kinder- und Jugendtheater zu Hause war. Nach dem Einzug des neuen Intendanten und seiner Magdeburger Mannschaft wird in dem gelben Backsteinbau nun für alle Altersgruppen gespielt. Und wenn sich der Vorhang nach den Vorstellungen schließt, geht es im sachlich-kühlen Foyer auf weißen Ledersesseln oder aber im neueingerichteten „nachtboulevard“ weiter. Auf dieser mit warmen Holz und im Feuerschweif des Pferdes ausgeschlagenen Bühne gibt es zur Eröffnung der Theaterspielzeit am 1. Oktober hitzige Tanztracks von Bodi Bill. Die drei gerade durchstartenden Berliner Jungs gastieren dort mit flirrend schwerelosen Elektrofolk-Rhythmen.
Auch eine Leinwand ist in dem anheimelnden, von Ausstattungsleiterin Iris Kraft gestalteten „nachtboulevard“-Raum gespannt, vor der man nicht nur Kunstfilme sehen, sondern sonntags auch gemeinsam beim „Tatort“ mitfiebern kann. „Nachtboulevard spiegelt ganz viel von unserem Theaterverständnis wider: Wir wollen ein lebendiger kommunikativer Ort in der Stadt sein“, sagt Helge Hübner, und dieser Ort könnte am Wochenende bei guter Partystimmung auch bis morgens um 4 Uhr noch aufgesucht werden.
Die Schauspieler mischen sich nach ihren Aufführungen mit ins Publikum und bestreiten auch kleine Zusatzprogramme: „mehr improvisiert und mit anderer Leichtigkeit als auf der großen Bühne. Auf jeden Fall ganz nah am Publikum“, betont Hübner. So werden die Mimen zu Halloween dem Publikum das Gruseln lehren, im November zu Schillers Geburtstag einen Schnell-Tell geben. „Das nachtboulevard steht und fällt mit den Schauspielern. In unserem Ensemble gibt es dafür ein ganz große Offenheit, die Darsteller wollen mit dem Publikum reden und sich nicht in der Kantine verkriechen. Denn wenn wir kein Interesse an einem lebendigen Ort hätten, wie sollte es dann das Publikum haben?“
Der 36-jährige Dramaturg betreute bereits am Magdeburger Theater das „Nachtcafé“ mit ähnlichem Ansatz. „Wir wissen natürlich, dass wir nicht einfach etwas verpflanzen können, denn in Potsdam gibt es eine andere Bürgerlichkeit und eine viel buntere Alternativszene. Deshalb werden wir im ersten Jahr viel experimentieren, um zu sehen, was angenommen wird.“
In Magdeburg habe es seitens des Publikums eine sehr große Offenheit gegeben und selbst mit unbekannten oder so radikalen Autoren wie Sarah Kane erreichte das Theater bis zu 25 Vorstellungen. Dass Potsdam mit der Nähe zu Berlin ein ganz anderes Pflaster ist, sei ihm natürlich bewusst. „Genau daraus ziehen wir unsere Kraft: Neues erforschen und sich selbst neu erfinden. Das Scheitern als Risiko immer dabei. Doch wir gehen mit der großen Behauptung voran: ,Hier ist Leben!’“
Helge Hübner tauchte gleich nach seinem Anglistik/Germanistik-Studium ins Theaterleben ein, assistierte als Dramaturg in Hannover,war bei Bob Wilson am Thalia Theater Hamburg. Nach Magdeburg kam er 2004, nachdem er zwei Jahre in Großbritannien als Lektor gearbeitet hatte und dort gemeinsam mit Autoren Stücke entwickelte. „Aber das war nicht mein Ding, mir fehlte die praktische Umsetzung, das Magische des Theaters.“ Es kommt Helge Hübner sehr entgegen, dass sich das Berufsbild des Dramaturgen in den letzten Jahren so radikal geändert hat. „Während man früher vor allem Bücher lesen und darauf achten musste, dass sie möglichst texttreu auf die Bühne gelangen, ist man heute mehr ein Produktionsmanager, gestaltet mit den Regie- und Ausstattungsassistenten ein Programm um das Programm.“ Dennoch geht Helge Hübner auch viel auf Proben, arbeitet eng mit Schauspielern und Regisseuren zusammen, „was nicht an jedem Theater so üblich ist“. Zurzeit konzentriert er sich neben dem „nachtboulevard“ auf Goethes Schauspiel „Clavigo“ in der Regie von Annette Pullen, das am 2. Oktober in der Reithalle A Premiere hat. Danach wird es, wie nach jeder Premiere, eine öffentliche Party geben.
Aber es soll im „nachtboulevard“ nicht nur gefeiert, sondern auch diskutiert werden, wie in der Reihe „Begegnungen in der Schiffbauergasse“, zu deren Auftakt der Bund der Architekten über Utopien seiner Zunft debattiert – passend zur Inszenierung „Der Architekt“. In „Neue Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ stellen Autoren exklusiv für die Theaterreihe geschriebene Beiträge vor, die Bezug zu Potsdam oder Brandenburg haben. Den Beginn bestreitet die Dramatikerin Gesine Dankwart bei der Brandenburger Literaturnacht am 24. Oktober. In der „NachtLounge“ soll sich „Putumayo“, das weltweit größte Plattenlabel etablieren. Dort präsentieren sich neue Stimmen des amerikanischen Songwriting ebenso wie neuer finnischer Pop. Und es wird auch Erfolgreiches aus Vorgängerzeiten integriert, wie das Impro-Clash, bei dem die Potsdamer selbst zu Darstellern werden.
Helge Hübner war einer der ersten aus dem neuen Ensemble, der von Magdeburg nach Potsdam zog. Seit Mai ist er dabei, mit seiner Freundin und ihrer Tochter an der Havel Fuß zu fassen. Und er schwärmt von dieser Traumstadt und auch von der Schiffbauergasse, die so viele Möglichkeiten bietet. Für ihn vor allem in der Reithalle, in der das Pferd zum Ausritt bereit steht. Jetzt heißt es für die Potsdamer nur noch aufsatteln.
„nachtboulevard“ in der Reithalle A: 1. Oktober 21 Uhr Konzert mit Bodi Bill, 23 Uhr Premierenparty mit radioeins-DJ Simon Brauer
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