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Kultur: Hinter der Hecke

Potsdamer Tanztage: Peeping Tom gelingt es in „Le Jardin“ Spaß und Ernst tänzerisch zu vereinen

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Potsdamer Tanztage: Peeping Tom gelingt es in „Le Jardin“ Spaß und Ernst tänzerisch zu vereinen Ein nackter Mann auf der Bühne. Still und mit klassisch vom Körper gestreckten Armen steht er da. Bewegungslos. Vor seinem Glied ein Feigenblatt aus Plastik. Als die Frau in dem roten Kleid unsanft den Finger in seinen runden Bauch drückt, macht er das, wozu er bestimmt ist: Er spuckt einen gebogenen Wasserstrahl aus. Er ist Springbrunnen in einem Garten, der mit all dem ausgestattet ist, was einen piefigen, spießigen Garten so ausmacht. Hohe, schier unüberwindliche Hecken zum Nachbargrundstück, eine von Pflanzen überwucherte Mauer, die jeden Durchblick unmöglich macht. Liegestühle, Sonnenschirm, Esstisch. Millimeter genau geschnittener Rasen. Die hermetisch abgeriegelte Idylle ist perfekt. Mit scharfen Spitzen, lustvoll ironisch schießt das belgische Tanzkollektiv Peeping Tom bei den Potsdamer Tanztagen auf die bürgerliche Wohlstandsgesellschaft. 3500 Euro netto monatlich, Haus, Familie, ein Auto, in guten Zeiten auch zwei. Hartz IV ist für die Bewohner des Gartens zunächst so weit weg wie der Mond. Es geht ihnen gut in „Le Jardin“, Der Garten – zumindest äußerlich. Doch das ist nicht das, was die drei Tänzer, Gabriela Carrizo (die Frau in dem roten Kleid), Franck Chartier (der junge Schöne mit dem Sixpackbauch) und Simon Versnel (der Springbrunnen), auf die Bühne bringen wollen. Ihnen geht es um Inneres, um Gefühle, die sie mit ausgesprochen ausdrucksstarker Sprache ihres Körpers sichtbar machen. Liebe, Nähe, Distanz, Gewalt, Macht, Lebenssinn und Einsamkeit. Das alles wird in dem Stück an die Oberfläche getanzt. Und das, ohne dass „Le Jardin“ undurchdringlich chaotisch wirkt. Alles fügt sich irgendwie zusammen, entwickelt sich miteinander, ist erst in der Summe ein Ganzes, der Mensch, das Leben. Am Anfang der Geschichte steht ein afrikanischer Nachtklub. Er taucht auf einer wandgroßen Leinwand auf. Er führt das Publikum 35 Minuten lang in den Makrokosmos des Stücks und bereitet mental auf den Mikrokosmos im Garten vor. Der Film führt durch ein Konzentrat bunter Kulturwelten, die in dem Klub aufeinander prallen. Hier ist nichts normal, verwischt sind Traum und Wirklichkeit. Die Kamera zeigt, was die Protagonisten sehen. Die blondierte Peepshow-Frau träumt von hämisch lachenden Männerfratzen. Eine Zähne fletschende Bulldogge taucht bedrohlich vor dem Gesicht einer Liliputanerin auf, die als Lachobjekt für das Publikum missbraucht wird. Zärtlich streichelt ein einsamer Typ an der Bar über die Brust einer Bikini-Schönheit auf einem Plakat an der Wand – egal durch wessen Augen man sieht: Der Klub ist ein Albtraum. Und der Wechsel in den Garten eine Erleichterung. Idyllisches Grün. Harmonie. Ein Paar, das sich liebt. Wie schön die Bilder, als Mann und Frau sich in rasende Leidenschaft tanzen. Sie fallen aufeinander zu, fangen sich am Mund auf, drehen sich, die Lippen aufeinander, um sich selbst, im Liegen, im Rollen. Bis sie im Gras zu einem Ganzen verschmelzen. Wäre da nicht der unsympathische, jammernde Alte. Niemand hört ihm zu. Und würde nicht Franck, der Waschbrettbauch-Typ, zum explosiven Solomann. Er tanzt sich angespannt, mit exzellenten akrobatischen Sprüngen fort von ihr, der Frau in Rot. Alles versucht sie, um ihn zurückzugewinnen. Umsonst. Albtraum Nummer zwei. Doch der ist ungewöhnlich leicht zu ertragen. Denn: Nach der dramatischen kommt locker flockige Musik, nach dem Gejammer des alten Nervers die in Unterhosen getanzte Balletteinlage der beiden Männer. Nichts ist normal, nichts ist unnormal. Das Leben ist ernst, das Leben ist lustig. Beides. Auch als die Frau am Ende durch den athletischen Mann zu Boden geht. Die Stimmung bleibt trotzdem gut – sie steht ja wieder auf. Marion Hartig

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