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Kultur: Hymne auf Berlin

Wolf Biermann stellte neuen Sammelband vor

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Leidgeprüft blickt Berlin auf seine jüngere Geschichte: Reichshauptstadt, Vier-Sektoren-Stadt, halbierte und schließlich wiedervereinte Stadt. „Keine Stadt auf dieser Welt hat wie Berlin ihre Identität im Laufe von 70 Jahren so oft verlieren müssen“, schreibt Uwe Lehmann-Brauns in seinem neuen Buch „Wer ist Berlin?“. Weil er die Frage kaum allein beantworten kann und Berlin eben auch von seiner Vielfalt lebt, hat der CDU-Kulturpolitiker und Anwalt gleich 30 namhafte Mitautoren organisiert. Mit einem von ihnen, dem Liedermacher Wolf Biermann, kam er am Mittwochabend in die ausverkaufte Villa Quandt, um seine Berlin-Anthologie vorzustellen.

Biermann hatte eigentlich keine Lust, sich an dem Buchprojekt zu beteiligen. Wie er mit seiner oft derb ironischen, doch immer humorigen Art zu verstehen gab, seien es eher sentimentale Gründe gewesen, eine Art Freundschaftsdienst. Seinerzeit setzte sich der in Potsdam geborene Lehmann-Brauns dafür ein, dass Biermann 2007 die Ehrenbürgerwürde Berlins verliehen wurde. Seither sind beide eng befreundet. Doch nicht nur Freunde oder konservative Autoren, sondern auch grüne und linke Politiker sowie Künstler, Historiker und Journalisten schildern in Lehmann-Brauns Sammelband ihre jeweilige Sicht auf Berlin.

So erinnert sich etwa der Pianist Andrej Hermlin an den so unfertig wirkenden Grenzstreifen, mitten in der Stadt, der Grünen-Politiker Wolfgang Wieland beschreibt Westberlin zur Zeit der 1968er-Proteste, der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin denkt an 1988 und seine erstes Berliner Kindl am Bahnhof Zoo zurück und Kurt Biedenkopf an einen fast wie leergefegten Alexanderplatz kurz nach dem Mauerfall.

Auch Biermanns Sohn Til, der vor drei Jahren von Hamburg nach Neukölln gezogen ist, hat einen Beitrag geliefert. Darin beschreibt der Journalist seinen Kiez als bunte Karibikinsel mit Kunst-Kneipen und Ein-Euro-Schawarma. So positiv sieht es auch sein Vater oft. Ja, er kriege jedes Mal einen Glücksschreck, wenn er heute Berlin besuche, sagte Biermann. Trotzdem er in Hamburg geboren und aufgewachsen ist und wieder dort lebt, fühlt er sich noch immer sehr mit Berlin verbunden. Erst in Berlin, während seiner Zeit als Regieassistent am Berliner Ensemble, in den Jahren zwischen 1957 und 1959, habe er begonnen, Gedichte und Lieder zu schreiben. In Hamburg wäre er nie auf die Idee gekommen, so Biermann.

Als 17-Jähriger war er 1953 in die DDR übergesiedelt und hatte von 1955 bis zu seiner Ausbürgerung, im November 1976, in Ostberlin gelebt. Nach Westberlin sei er danach nur selten gereist, nicht zuletzt aus Furcht vor der Stasi, die nachweislich Leute von dort verschleppt habe, sagt Biermann. Viele dieser Verbrecher von früher, sagt er, seien noch da, nur hätten sie ihre Allmacht verloren. Und so überwiegt bei Biermann heute die Freude, wenn er sieht, wie sich sein ehemaliger Heimatkiez Berlin-Mitte entwickelt hat.

In seinem Beitrag zur Sammlung „Wer ist Berlin?“ feiert Wolf Biermann die Aufhebung Westberlins als Sieg der Demokratie – und damit als erfreuliche Form der Auflösung. Doch lenkte er rasch von seinem Text wieder auf den seines Sohnes und imitierte zudem noch Marcel Reich-Ranicki, um das Buch zu preisen. Seine Gitarre hatte er nicht dabei, die Laune wohl auch nicht. Und doch kam er am Ende dieses unterhaltsamen Abends nicht drum herum, noch ein Lied zu singen. Daniel Flügel

Daniel Flügel

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