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Kultur: „Ich schaffe ein Monster“

Der Choreograf Olivier Dubois bringt die 70-jährige Tänzerin Gérmaine Acogny in die „fabrik“

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Monsieur Dubois, der Komponist Leonard Bernstein schrieb, als „Le sacre du printemps“ 1913 in Paris uraufgeführt wurde: „It’s all about sex“. Wie viel Sex steckt denn in Ihrem neuen Stück „Mon élue noire – Sacre 2“?

Ich denke nicht, dass es in „Das Frühlingsopfer“ eigentlich um Sex geht. Es ist natürlich definitiv erotisch, die Musik hat einen treibenden Rhythmus, dem sich die Körper hingeben. Und klar: In dem Moment, in dem jemand eine Bühne betritt, entscheidet jeder Zuschauer immer: Ja oder nein – attraktiv oder nicht attraktiv? Das ist das Spiel, das muss man akzeptieren, auch wenn gerne noch so viel intellektuell drumherumgeredet wird. Um diesen Moment kommt man nie herum, deshalb habe ich bei meinem früheren Stück „Tragédie“ versucht, diesen Prozess an den Anfang zu stellen. Indem alle 18 Tänzer von Anfang an komplett nackt sind. So kann ich das Publikum anschließend mitnehmen. Zu dem, worum es mir eigentlich geht. Wenn es mir um Sex ginge, würde ich Pornografie machen.

Dennoch galt die Premiere von „Le sacre du printemps“ in Paris damals als Skandal. Große Aufregung, viele fühlten sich provoziert – wäre so was heute überhaupt noch möglich?

Klar, in den vergangenen Jahren hatten wir einige Skandale, was die Kunst betrifft. Welche Reaktionen das hervorrufen kann, da müssen wir gar nicht nur an das denken, was vergangene Woche in Frankreich passiert ist. Aber Religion ist immer noch etwas, was manchen als unantastbar gilt – und auch der Körper ist immer noch ein sehr sensibles Thema. Wer will, kann also auch heute sehr gut provozieren, ich persönlich aber suche nie nach dem Skandal. So eine Haltung – auf den Skandal, den Schock abzielen – halte ich künstlerisch für völlig sinnlos.

Warum?

Erstens bedeutet es, dass jemand sich an dem orientiert, was das Publikum erwartet. Schon das kann nur scheitern. Und zweitens funktioniert ein Schock immer nur einmal. Der funktioniert vor allem über das Überraschungsmoment. Der Skandal verpufft meist schnell, und wer nur darauf abzielt, gerät schnell in Vergessenheit. Ich aber finde, Kunst macht man nicht für den Moment, fürs Jetzt. Man macht sie für die Ewigkeit.

Für „Mon élue noire“ arbeiten Sie zum ersten Mal mit der senegalesischen Tänzerin Gérmaine Acogny. Wie haben Sie sich getroffen?

Die Geschichte ist schnell erzählt: Ich kam nach Dakar, wo sie 1968 ihr erstes Tanzstudio eröffnete. Ich war dort zu einem Workshop für Choreografen, ich hatte von ihrer Schule, L’Ecole des Sables, gehört und wollte sie mir ansehen. Sie selbst war gar nicht dort an diesem Tag, trotzdem herrschte dort eine ganz spezielle Atmosphäre – und ich bin eigentlich nicht schamanisch oder esoterisch –, aber ich wollte dort etwas machen. Ich traf mich also bald darauf mit ihr in Straßburg, Sie kam auf mich zu, ich wollte mich vorstellen, doch sie sagte: „Stopp: Du bist Legba.“ Das ist in der afrikanischen Mythologie der Gott der Fruchtbarkeit und der Unordnung. Sie meinte wohl einfach, dass es eine Verbindung zwischen uns gibt. Von da an verstanden wir uns. Das Lustige ist: Alle nennen sie Mama, dabei ist sie wie ein kleines Mädchen.

Wie ist die Zusammenarbeit?

Es ist das erste Mal in ihrer langen Karriere, dass sie für jemand anderen performt. Jeder Tag mit ihr ist eine Lektion. Sie verschlingt alles, gibt nicht auf, obwohl ich eher hart zu meinen Tänzern bin. Für sie ist es ein Traum, der wahr wird: Denn es war der Choreograf Maurice Béjart, der Acogny eine „élue noire“, „schwarze Auserwählte“, nannte, aber bisher bekam sie nie diese Rolle aus dem „Sacre“. Ich glaube, sie hat das Gefühl: Jetzt oder nie.

Sie sind ein strenger Regisseur?

Ja, und sie hat diese Arbeitsauffassung, die ich auch teile, die ich bei vielen jüngeren Künstlern aber oft vermisse. Die bringen ihren Körper nicht derart ein. Aber tanzen heißt eben zu schwitzen. Das ist es, was wir produzieren. Aber vielleicht bin ich da auch altmodisch, in dieser Hinsicht passen Gérmaine und ich gut zusammen. Wir haben beide den Wunsch, jeden Tag zu etwas Besonderem zu machen, nicht darauf zu warten, dass jemand anderes kommt, der ihn zu einem schönen Tag macht.

„Mon élue noire“ ist Ihr erstes Solo-Stück. Gehen Sie da anders vor als bei Stücken mit 18 Tänzern?

Nun, ich kollaboriere nicht mit den Tänzern, weder mit einer Gruppe noch mit Gérmaine Acogny. Aber ich bin bereit zu verhandeln, und dafür ist natürlich sehr viel mehr Raum, wenn man mit nur einer Tänzerin arbeitet – und ganz besonders mit einer Dame von 70 Jahren! Am Ende bin ich es, der auf der Bühne steht, auch wenn die Tänzer das Stück tanzen. Es kommt ja aus mir und ich muss es in sie hineinbekommen. Und wenn ich, wie jetzt, mit nur einer Person zusammenarbeitet, schaffe ich quasi eine Art Monster, ein Wesen aus ihr und mir. Olivier Acogny oder so...

Was macht denn für Sie einen guten Tänzer aus?

Ich will keine Tänzer, ich will Männer und Frauen, die tanzen. Danach suche ich immer. Und Gérmaine Acogny ist genau das, das hat nichts mit der Technik zu tun, einem speziellen Trick. Sondern dass man jemanden trifft, der etwas erschafft, eine starke Architektur von Tanz. Mir geht es um das Abenteuer des Menschseins, das wir alle teilen.

Wovon handelt „Mon élue noire“?

Das Set ist klar: Es geht um die Frage, ob sie die letzte Königin Afrikas ist, die geraubt wurde. Aber schon der Titel ist schwierig: „Meine schwarze Auserwählte“, da schwingt natürlich der Geist des Kolonialismus mit, unsere Vergangenheit, die wir in Frankreich noch immer nicht aufgearbeitet haben. Eine schwarze Frau, die mir gehört, das ist also heikel, aber Béjart hat es so zu Acogny gesagt, es ist also Teil ihrer Geschichte.

Der kolonialistische Blick setzt sich fort?

Ja, das ist noch nicht vorbei. Wir fangen erst an zu akzeptieren, was wir getan haben. Aber das ist nicht der Grund, warum ich das Stück mache. Der Grund dafür ist allein Gèrmaine Acogny. Ich will mich mit dem Stück nicht auf eine exotisierende Weise vor Afrika verbeugen – ich weiß viel zu wenig über den Kontinent und desto mehr ich über ihn lerne, desto mehr wird mir klar, wie wenig ich weiß. Aber vielleicht haben wir westlichen Länder tatsächlich ein paar Dinge vergessen.

Trotzdem passt es: Als „Le Sacre du printemps“ geschrieben wurde, entdeckten die europäischen Künstler gerade die Kunst der indigenen Kulturen. Ist es also ein politisches Stück?

Extrem politisch, ja. Und zugleich extrem intim.

Dabei widmen Sie sich eigentlich immer den großen, existenziellen Themen.

Ja, bei „Tragédie“ etwa geht es um die Tragödie, dass Mensch sein eben nicht zugleich menschlich sein bedeutet. Dass wir darum jeden Tag erneut kämpfen müssen.

Was wird das nächste Stück?

Nun, nachdem ich jetzt ein erstes Solo mit einer Frau gemacht habe: ein Solo mit einem Mann. Aber es wird eine große Inszenierung, ein Solo mit einem Mann – und einem Chor, ählich wie der in der griechischen Tragödie, der aus 40 Männern besteht. Andernfalls könnte es ja zu billig werden.

Für die griechischen Tragödien haben Sie ein Faible, oder?

Ja, ich finde vieles inspirierend, aber ich nutze nie geschichtliche Stoffe.

Auch jetzt nicht, wenn Sie eine Variation des „Sacre du printemps“ machen?

Nein, denn ich mache ja nicht den „Sacre du printemps“, ich nutze es und mache „Mon élue noire“. Ich will insgesamt zwölf Stücke machen, bei denen ich jedes Mal die Musik von Strawinski nutze. Jedes Stück wird für sich stehen und erst zusammen werden sie mein „Sacre du printemps“. Das erste war „Prêt à baiser“, „Mon élue noire“ wird Nummer zwei.

Das Gespräch führte Ariane Lemme.

Olivier Dubois, geboren 1972 in Colmar, fing erst mit 23 Jahren an zu tanzen und leitet seit Anfang 2014 das Ballet du Nord in Roubaix. Aufsehen erregte er zuletzt mit seinem Stück „Tragédie“.

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