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Kultur: „Ich will Wasser werden“

Die Ikarus-Mythen in der Musik von heute/ Konzert mit Gottlob von Wrochem im Alten Rathaus

Stand:

Die Ikarus-Mythen in der Musik von heute/ Konzert mit Gottlob von Wrochem im Alten Rathaus Es geht ja gar nicht anders: Jeder freie Umgang mit dem Vollkommenen muss sich vom Original entfernen. Das ist überall so, in der Theologie, der Musik, auch bei den Mythen. Wie das Brecht/ Weill''sche Lehrstück vom „Ozeanflug“ vor knapp einem Jahr in Kleinmachnow zum Beispiel den ikarischen Traum vom Fliegen dem allgemeinen Fortschrittsgedanken zuschlug, so frei nahm sich auch der weißrussische Poet Ales Rasanau, Jahrgang 1947, mit seinem „Poem vom Brunnen“ der Daidalos-Ikaros-Mythe an. Brecht lobte die Tat selbst, der Minsker hingegen konstruierte einen gegenwartsnahen Konflikt zwischen Vater und Sohn, ganz aus dem freien Willen des Jungen geboren. Den aber gibt die Mythe nicht her: Die Erfindung der Flügel zum Fliegen war hochpeinliche Not, dem Kreterkönig Minos aus Daidalos'' selbsterdachtem Labyrinthe zu entkommen, damals in Knossos, obwohl der kunstbegnadete Vater andernorts wegen Totschlags aus Neid gesucht worden ist. Die Kunst ist wohl nie ohne Makel. Wenn der Berliner Pianist und Komponist Johann Gottlob von Wrochem also seine Rasanau nachempfundene Tonschöpfung „Ich wollte fliegen und erfand die Flügel“ (2001) nennt, so ist das genauso erdichtet wie die Fortschritts-Idee im „Ozeanflug", nur dass Brecht nicht zu den Poeten zählt. Oratorienähnliches Werk Über das Ideal und seine Bedeutung nachzudenken, war am Sonntagnachmittag im Alten Rathaus bei einer gutbesuchten Soiree Gelegenheit, zumal Herr von Wrochem (geb. 1938) sich ja anschickte, sein viergeteiltes Opus „für Sprecher und Klavier" am Flügel selber auszuführen. Die ersten Teile, Dädalus und Ikarus betreffend, schuf er im Eigenauftrag, die anderen, zwei (Toten)-"Gräbern" gewidmete Parts, fügte er auf nachdrücklichsten Wunsch des vielbeschäftigten Dichters philologischer Abkunft um der Vollkommenheit willen dazu (Elke Erb übersetzte). Dass ausgerechnet Chopins 2. Sonate in b-Moll op. 35 diesem langen Solo-Vortrag folgte, wird kein Zufall gewesen sein, der berühmte Trauermarsch des dritten Satzes, Lento, verwies auf das Scheitern des aufbegehrenden Jünglings, der „nach der Pflicht" nicht leben wollte, anders als Herakles. Der Potsdamer „Verein zur Förderung musikalisch-literarischer Soireen“ hatte gemeinsam mit der Berliner Künstlerinitiative „Die Neue Brücke" dafür gesorgt, dass dieses oratorienähnliche Werk auch in Potsdam aufgeführt werden konnte. Nacheinander von Ton und Wort Johann Gottlob von Wrochem übernahm sowohl die Sprechstimme als auch die musikalische Gestaltung, was, des Aufwandes wegen, ein Nacheinander von Wort und Ton erzwang. Musikalisch hatte man es zuerst mit einer Laut-Komposition am geöffneten Flügel zu tun, wo der Komponist mit allerlei Organon das Saitenwerk bediente. Diese Parts, oft sehr dissonanter Natur, gehörten zu den Dädalus und Ikarus-Monologen, wobei auf melodische Elemente weitgehend verzichtet wurde. Im zweiten Teil, durch „Philosopheme“ auf Hamlets Totengräber-Szene bereichert, nahm mit der Arbeit an der Tastatur auch das Harmonische zu. Die poetische Stimme hielt sich ganz undramatisch im kontinuierlichen Staccato, und so war auch schwer zu verstehen, warum der gestürzte Ikarus mit „Ich will Wasser werden“ sein mythenfernes Einverständnis gab, zum Absturz ins Meer, nachdem ihm die Sonne die künstlichen Flügel zerschmolz. Bei aller Referenz an den jugendlichen Rebellen, welcher vor den Augen des Vaters ertrank, blieb der Eindruck, dass einer allein dieses umfangreiche Gesamtwerk in Ton und Sprache kaum bewältigen kann. Auch im zweiten Teil der Soiree (im großen Theatersaal) erlebte das Publikum den freien Umgang mit einem vollkommenen Werk. Chopin war nicht impulsiv wie Liszt, er zerprügelte niemals ein Klavier. Sein Spiel vermied den Exzess, er suchte, statt Kraft, die Nuance. Wenn nun Herr von Wrochem dessen viersätzige b-Moll-Sonate von 1839 Lisztscher Leidenschaft aussetzte, so dürften rezeptive Korrespondenzen zur viergeteilten Rasanau-Vertonung wohl im Bereich des Möglichen liegen. Zwischen kraftvollem Auftakt und fast donnernder Coda bestimmten schnelle Tempi den Kopfsatz des Opus, Überschrift: Grave. Im zweiten ist alle Kraft am Anfang, das Ende läuft, eher still, ins Fragmentarische hinein. Der Trauermarsch sanft und dunkel, wie man ihn kennt, stand in krassestem Gegensatz zum Finalsatz: Musikalisch war das verschenkt, denn der Pianist hatte das Presto wohl zu wörtlich genommen – flinker geht''s nimmer. Vielleicht macht das im gesamten Kontext Sinn, dann aber müsste man alles wohl ein zweites Mal hören. Wie sich also Chopin ganz frei in den Dienst der Ikarus - Mythe gestellt sah, so Johann Gottlob von Wrochem in den Geist von Ales Rasanau – dessen Vorname übrigens, aus dem Lateinischen, „ge- oder beflügelt" zu dolmetschen ist - ganz seltsam kommen manchmal die Dinge zusammen. Drei Zugaben, darunter ein Nocturne und eine hübsche Etude, zeigten nach langem Applaus sehr elegant, dass der Berliner Pianist seinen Chopin auch ohne das Feuer von Liszt zu spielen versteht. Gerold Paul

Gerold Paul

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