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Kultur: „Ich wollte nichts als sein“

Rainer Simon legt mit dem Roman „Regenbogenboa“ seine kaskadierenden Träume vor

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Rainer Simon legt mit dem Roman „Regenbogenboa“ seine kaskadierenden Träume vor Für Gregorio ist ube, die Regenbogenboa, überall. Sie ist der Fluss, auf dem er mit seinen Gefährten Pavo, Fidel, Bella und anderen eine Kanu-Expedition zu den gefürchteten Huaorani-Indianern unternimmt, sie taucht beim Eingedenken an die Kindheit als Halsschmuck-Boa seiner Tante auf, sie ist die Straße seines Lebens, der Weg ins Innere des deutschen Zivilisationsflüchtlings, welcher von sich sagt „Ich bin der Autor, der mich denkt“. Der Potsdamer Filmregisseur Rainer Simon hat nach 1990 des öfteren in Südamerika gelebt, vornehmlich in Ecuador. Neben der zeitgleich erschienenen Autobiografie des aufschlussreichen Titels „Fernes Land“ legt er jetzt gleichsam eine innere dazu, initiiert von der magisch-dunklen Regenbogenboaschlange und von Drogen – Gebärer poetischer und heftiger Bilder. Gregorios. Der Roman sei fiktiv, behauptet Simon. Aber so etwas denkt sich keiner aus, das schreibt man auch nicht zweimal, am wenigstens mit der Hand, ohne Laptop, ohne Maschine. So beginnt dieses Buch, so endet es. Irgendwo am Ostrand der ecuadorianischen Anden, Quell-Land des Amazonas, notiert der über achtzigjährige Protagonist mit den Erinnerungen auch die Summe seines Lebens. Er wird bald sterben. Was ihm des Eingedenkens wert ist, gibt er, in einem Kästchen verschlossen, an seinen Vertrauten Sebastián weiter. Die fünfzigjährige Tochter Anna reist übern Teich zum Begräbnis, sie bekommt die Aufzeichnungen, lose Blätter, in den neunziger Jahren mit Herzblut geschrieben. Was ihr da an Kaskadenträumen, irrwitzigen Wanderungen des väterlichen Geistes unter Flüssen und gar durch eine Eidechse hindurch, begegnet, macht die Substanz dieses so anschaulich wie brillant geschriebenen Buches aus. Zeit und Raum sind bei Gregors „Identitätssuche“ außer Kraft, Erinnerung ist allgegenwärtig, an Kindheit und Kriegsende, als „die Russen kommen“ und der pubertierende Bub mit entwaffnender Naivität das Wort „Vergewaltigung“ betrachtet, an die Erzählungen indianischer Freunde, den Vampirkuss und Humboldts Chimborazo-Expedition, an Flugzeugabstürze über dem Dschungel und die eigene NVA-Zeit. Oder wie man Schrumpfköpfe, tsantsas, herstellt. Gregorio steigt in die Totenwasser, stirbt und ersteht. Materie hat keine Macht über ihn, denn er geht durch die Berge, um in der heimatlichen Waschküche anzukommen, auf jenem Kontinent, wo er angeblich „erfror“. Der Autor versteht es, auch ohne Laptop zu erzählen, zu verknüpfen. Der Text vibriert, keine Seite, die löge. „Regenbogenboa“ hat ja viele Ebenen, mithin viele Wirklichkeiten: Biografie, Träume und Legenden, Annas Reflexe auf den fremdgebliebenen Vater (vielleicht selbst ein „Vergewaltigungskind“, Gregor blieb der seinige unbekannt), auch Erfahrungen mit sozialem Unrecht. Simon schildert, wie nur eine Generation ausreichte, um waldbewohnenden Indios an die Segnungen des American way of live heranzuführen. US-„Evangelisten“ bereiteten das Terrain, dann kamen die Ölmultis. Sie machen seitdem alles kaputt, die Seelen zuerst, den Urwald, den Fluss. Orte wie Shell oder Coca sind Realitäten. Gregor leidet an der Zivilisation, wo das Kranke als gesund, Gesundes als krank gilt: „Ratten der Angst sind wir!“ Aber Selbstmitleid, das lähmendste aller Laster, lässt er nicht zu. „Wo ist die Grenze zwischen Anpassung und Selbstaufgabe?“ Am Ende bezweifelt er alle Veränderbarkeit dieser Welt. Der Trank ayahuasca und ein Kaktus huachuma (jetzt ahnt man, was „magischer Realismus“ ist) weisen Wege zur inneren Freiheit – wo man sich selbst gebiert, wo Ich und Du identisch sind. „Nur was man selbst erlebt, zählt“. Er musste weit fortgehen, um dergestalt bei sich anzukommen: Keiner weiß, wie Gregor gestorben ist. Anna liest den lapidaren Abschiedssatz des Vaters: „Es gibt nichts mehr zu tun“. Lebensüberdruss. Still fortgehen mit huachuma, hinterlassen, was man nur einem Freund anvertraut, am Rio Napu – „una boa immensa“. Vage Hoffnung im letzten Kapitel mit einem Indianerjungen, der dort, wo Gregor verbrannt wurde, einen schönen bunten Vogel sah, „ihn erkannte“ und immer wiederkam – „bis Riqui selbst ein alter Mann wegging ...“ Rainer Simon „Regenbogenboa“ Roman Schwartzkopff Buchwerke Hamburg Berlin, 312 Seiten, 22,50 Euro.

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