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Kultur: Im Johnson-Kosmos

Ulrich Matthes las in der Reithalle

Stand:

Ulrich Matthes las in der Reithalle Nach mehr als 13 Jahren setzt sich der Schriftsteller Uwe Johnson samt Familie in den Zug und fährt wieder nach Leipzig. Johnson bleibt fünf Tage bei seinem alten Studienfreund Béla, reist zurück in die Zwangsheimat West-Berlin, setzt sich an den Tisch und schreibt. „Rechenschaftsbericht über eine Reise zur Familie Klemm und anderen im Stadtkreis Leipzig vom 22. September bis 26. November 1972“ titelt er den 15-seitigen Erlebnisbericht, als Brief verschickt an Freund Klaus Baumgärtner, samt Gattin. Im Berliner Transit-Verlag ist nun ein mit 120 Seiten schmales Büchlein mit Johnsons „Rechenschaftsbericht“, einem zweiten Brief und Anmerkungen erschienen. Am Mittwochabend las der Schauspieler Ulrich Matthes in der zur Hälfte gefüllten Reithalle aus dem Buch mit dem Titel „Sofort einsetzendes Geselliges Beisammensein“. Uwe Johnson, der in den 50er Jahren in Leipzig Germanistik studierte, stand schon früh kritisch der DDR gegenüber. 1959 folgte, auf Drängen seiner Freunde, der „Umzug“ nach West-Berlin. Im Suhrkamp-Verlag erschien sein Debütroman „Mutmaßungen über Jakob“. Ab 1971 auch der erste Band von „Jahrestage – aus dem Leben der Gesine Cresspahl“. Dieser insgesamt vierbändige Roman zählt heute zu Johnsons Hauptwerk. In protokollartigem Ton berichtet Johnson im „Rechenschaftsbericht“ über seine fünf Tage in Leipzig. Wie bei einer Collage setzt er dabei Beobachtungen, Erinnerungen und Erklärungen zusammen. Und zeichnet, mit distanziertem Blick und gewohnter Johnsonscher Ironie, ein Bild des Menschen im krankhaften System DDR. Da fragt ihn Freund Béla „Wo habt’n ihr die Hose? Er hatte sich solch ein Nietenzeug so herzlich gewünscht, er wäre bereit gewesen, es in der Straßenbahn anzuprobieren. Leider war sie dazu zu voll besetzt.“ Da hat Freund Béla am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig 1966 Hausverbot. Sein verschlossener Schrank wird aufgebrochen. Es werden Postkarten aus dem „kapitalistischen Ausland, genauer aus dem Ostseebad Dahme / Ostholstein“ gefunden. Und das führt dann zu einer Anklage wegen „pornographischer Neigungen, ebensolcher Propaganda sowie auch undurchsichtiger Ordnungsprinzipien“. Wenn man weiß, dass hinter dem Spitznamen Béla der renommierte Musikwissenschaftler Eberhardt Klemm steckt, wirken derartige Vorwürfe durch die DDR-Organe noch absurder. Doch solche Einordnungen fehlten, die für das Verständnis des Textes und der darin vorkommenden Personen wichtig gewesen wären. Diese wurden wohl als bekannt vorausgesetzt. Keine kurze Einführung über den 1984 verstorbenen Johnson. Die wenigen Worte von Verleger Klaus Baumgärtner beschränkten sich fast nur auf sein neues Buch. Schauspieler Ulrich Matthes, einer der markantesten Theater- und Filmschauspieler, in diesem Jahr zum „Schauspieler des Jahres“ gewählt, wurde nur kurz vorgestellt. All das wirkte sehr lieblos. Doch Matthes Vortrag machte dies alles wett. Er las mit vielen Pausen und dem protokollhaften Charakter entsprechender leichter Monotonie. Knapp 45 Minuten mittendrin im Kosmos von Uwe Johnson. Dirk Becker

Dirk Becker

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