Kultur: Im Kutschstall: „Geschichte von unten“
Ein Blick genügte Christoph Schreckenberg. Im Schaufenster eines Antiquariats entdeckt er vor sechs Jahren das Manuskript „Lebens=Geschichte des Unterofficier Pickert.
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Ein Blick genügte Christoph Schreckenberg. Im Schaufenster eines Antiquariats entdeckt er vor sechs Jahren das Manuskript „Lebens=Geschichte des Unterofficier Pickert. Invalide bey der 7.ten Compagnie“. Ein Halblederband mit 206 Seiten in akkurater Handschrift. Nach kurzem Blättern wusste Bibliothekar Schreckenberg, dass er etwas Besonderes in den Händen hielt. Einen Tag Bedenkzeit gab er sich, dann kaufte er das Manuskript. Gestern stellte Christoph Schreckenberg zusammen mit dem Literaturwissenschaftler Gotthardt Frühsorge „Die Lebensgeschichte des Johann Christoph Pickert“, erschienen im Wallenstein-Verlag, vor. Knapp 30 Gäste waren ins Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte (Kutschstall) gekommen. Schreckenberg und Frühsorge haben die Handschrift auf Echtheit untersuchen lassen, haben in Archiven recherchiert, bis sie sich entschlossen, die Lebensgeschichte des 1787 in Haldensleben bei Magdeburg geborenen Pickert, der 20 Jahre im preußischen Heer diente, zu veröffentlichen.
Pickert, mit 16 Jahren eingezogen, hat 1806 bei der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt gekämpft, kam in französische Gefangenschaft und war später bei der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 und zwei Jahre später bei der Schlacht von Waterloo dabei. Doch seine niedergeschriebene Lebensgeschichte, die mit seinem Austritt aus dem aktiven Dienst im Jahr 1824 endet, ist weniger Geschichte vom Krieg. Was Pickert, Sohn einer Schneiderin und gelernter Handschuhmacher, schreibt, nannte Frühsorge „Körpergeschichte“. Pickert liefert keine verklärende Beschreibung vom Soldatenleben oder patriotisches Schlachtengetümmel. Er schreibt von Hunger, Entbehrungen, Schmerzen, Krankheiten und Erniedrigungen, die er erfahren musste.
Demgegenüber stellt er seine Kindheits- und Jugenderinnerungen, die einen vielschichtigen Blick in das damalige Leben der einfachen Leute geben. Gerade diese „Geschichte von unten“, die Schreckenberg und Frühsorge um ein ausführliches Nachwort ergänzt haben, macht dieses Buch interessant. Denn Quellen aus dem Leben der unteren Bevölkerungsschichten aus dieser Zeit sind selten. Dabei ist Pickerts Geschichte keine trockene Aneinanderreihung von Jahreszahlen. Mit feinem und humorvollem, selbstironischem Unterton erzählt er aus seinem Leben. Und wie gegenwärtig diesen Leben sein kann, zeigte Schauspieler Moritz Führmann. So wie er aus dieser Lebensgeschichte las, war es fast, als würde Pickert selbst erzählen.Dirk Becker
Dirk Becker
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