Kultur: Im leeren Raum
Wenn der Verfall Schönheit zeigt, sieht es der Potsdamer Fotograf Manfred Kriegelstein
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Es ist, als ob sich die Räume öffnen. Als ob sie Seiten zeigen, die sonst niemand sieht. Es ist, als ob diese Räume Vertrauen fassen können.
Der 56-jährige Manfred Kriegelstein betritt Räume, die der Mensch vor Jahren verlassen hat. „Russenkasernen“ werden sie noch immer genannt. Diese weitläufigen Areale rund um Berlin und Potsdam, obwohl hier schon seit Jahren keine „Russen“ mehr leben. Im Spätsommer 1994 zogen die letzten Soldaten der Sowjetarmee ab. Zurück blieben leere Kasernen. Kurz danach kamen die Neugierigen, dann die Randalierer. Danach kamen die Abrissmaschinen oder niemand mehr. Die Natur bahnte sich ihren Weg, und der Verfall. Dann kam Manfred Kriegelstein mit seiner Kamera.
In der noch bis einschließlich Sonntag gezeigten Ausstellung von zehn Potsdamer Fotografen im „Güldenen Arm“ in der Hermann-Elflein-Straße 3 sind elf Bilder von ihm zu sehen, die er in solchen leeren Kasernen gemacht hat. Es sind Detailaufnahmen sowjetischer Bildpropaganda, die an die Wände der Kasernen gemalt wurden. Und auch wenn von vielen nur die Umrisse geblieben sind, erzählen sie auf bedrückende Weise Geschichte.
Zur Fotografie kam Kriegelstein 1977. Der gebürtige Zehlendorfer saß über den Prüfungsbüchern für sein Zahnmedizinstudium und brauchte etwas Abwechslung. In einem Fotogeschäft kaufte er sich seinen ersten Fotoapparat, eine gebrauchte Spiegelreflexkamera. Auf dem Ladentisch lag ein Zettel vom Fotografenverein Kreuzberg. „Dort habe ich all das Handwerkliche gelernt“, sagt Manfred Kriegelstein.
Wenn er nur Abwechslung vom Lernen suchte, warum ist er dann nicht einfach spazieren gegangen oder hat ein Konzert besucht? Manfred Kriegelstein sagt, dass es einfach so war. Keine Prägung durch das Elternhaus oder ähnliches. Er kaufte sich die Kamera und fing an zu fotografieren. Doch es muss davor etwas gewesen sein. Manfred Kriegelstein muss mit neugierigem Blick durch die Stadt gelaufen sein und gemerkt haben, dass es Dinge zu sehen gibt, die festgehalten werden müssen. Der Kauf der Kamera kann da nur der nächste, zwangsläufige Schritt in die richtige Richtung gewesen sein.
Zwei Jahre, nachdem Kriegelstein mit der Fotografie begonnen hatte, konnte er seine erste internationale Ausstellung mit Bildern aus Kreuzberg zeigen. Bis heute hat er über 1000 Auszeichnungen und Preise erhalten, 1987 wurde ihm der höchsten Ehrentitel der Federation Internationale De L''Art Photographique verliehen. Kriegelstein ist anerkanntes Mitglied in nationalen und internationalen Foto-Jurys. Trotzdem hat er die Fotografie nicht zu seinem Beruf gemacht. Man braucht Kriegelstein gar nicht zu fragen, warum er noch immer als Zahnarzt in Berlin arbeitet. Es ist die Unabhängigkeit, die sich Kriegelstein so für seine Leidenschaft Fotografie bewahrt.
Die Ästhetik der Vergänglichkeit ist es, die Kriegelstein immer wieder aufs Neue mit seinen Bildern sucht. Schon in seiner ersten großen Ausstellung hat er diese etwas kratzbürstige Schönheit im Verfall in Kreuzberg gezeigt. Er hat die Kanareninsel Lanzarote immer und immer wieder besucht, bis heute 35 Mal, um auf diesem rauen Eiland Motive zu finden. Dann hat er die „Russenkasernen“ entdeckt.
Manfred Kriegelstein ist ein offener und herzlicher Mensch, der einen in seinem Atelier nicht wie einen Gast empfängt, sondern wie jemanden, der seit Jahren schon hier ein und aus geht. Er öffnet immer neue Schubladen, holt immer mehr Bilder heraus, um zeigen, was er meint, wenn er vom perfekten Bild, von seiner Bildsprache spricht. Kriegelstein bittet, seine Bilder ruhig in die Hand zu nehmen. Er druckt sie auf hochwertigem FineArt-Papier, das in der Hahnemühle im niedersächsischen Dassel nach mittelalterlicher Handwerkstradition hergestellt wird. „Fotografie ist trotz der Vorzüge durch die Digitalisierung für mich noch immer ein sinnliches Erlebnis“, sagt Kriegelstein.
Die Frage, warum er ausgerechnet in verlassenen Räumen fotografiert, erübrigt sich. Seine Bilder sprechen für sich. Sie zeigen Räume, in denen die Farbe von den Wänden, der Decke und den Dielen blättert, Räume mit zerschlagenen Kachelöfen, herausgerissenen Fußböden. Doch diese Räume schrecken nicht ab. Oft ist es nur ein Licht, das von irgendwo her Wärme in diesen Verfall bringt. Kriegelsteins Bilder lassen einen so in diesen Räumen verweilen, in denen man sonst sofort die Flucht ergreifen würde.
Wenn Manfred Kriegelstein diese Räume betritt, bringt er Zeit mit. Er schaut nur kurz, um zu erkennen, ob er hier das perfekte Bild machen kann. Dann wartet er, bis der Raum sich öffnet. Manchmal liegt es am Licht, manchmal ist es die Geduld, die er aufbringt. Irgendwann drückt Kriegelstein auf den Auslöser. Kein Kunstlicht, keine Inszenierung. Wenn der Raum zu ihm spricht, soll das unverfälscht auf dem Bild zu sehen sein.
„Manchmal erlebe ich dort auch noch Überraschungen.“ Kriegelstein zeigt ein Bild von einem Raum, in dem Schwarz dominiert. Durch drei Fenster fällt Licht auf den Boden. Und genau dort, wo das Licht auf den Boden fällt, wächst ein sattgrüner Farn. Das nötige Wasser kommt durch das undichte Dach. Als Manfred Kriegelstein für dieses Bild den Auslöser drückte, muss es genau in dem Moment gewesen sein, als der Raum Vertrauen zu ihm fasste.
Dirk Becker
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