Kultur: Im Orffschen Rausch Die Singakademie
im Nikolaissaal
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Den zahlreichen Spontanbesuchern, die am Samstag kurzentschlossen in die Ticketgalerie eilten, um noch ein Billet für Carl Orffs „Carmina Burana“ zu ergattern, zeigte die launische Glücksgöttin Fortuna die kalte Schulter. „Alles ausverkauft“, beschied sie durch den Mund der Abendkassemitarbeiterin der geduldigen Warteschlange. „O Fortuna“ tönte es kurze Zeit später im Nikolaisaal, allerdings nicht tadelnd, stattdessen mit ostinatem Rhythmus der Launischen hymnisch huldigend. Voller Inbrunst angestimmt von der Singakademie Potsdam, einer voluminös auftrumpfenden, homogenen, total textverständlichen und sauber intonierenden, kurzum: einer bestens präparierten Kehlenschar unter der Leitung von Thomas Hennig. Doch auch das von seinem Dirigenten Knut Andreas sehr gut einstudierte Collegium musicum Potsdam dreht überaus kraftvoll und vom präzisen Schlagwerk angefeuert am göttlichen Glücksrad mit. Mit Biss werden „die Wunden, die Fortuna schlug“ beklagt. Die Posaunen schmettern aus vollen Schieberohren, die Männerstimmen tönen kräftig.
Doch ehe es mit der urwüchsigen Musik weitergeht, erhebt Rainer Wolf, Professor für Sprecherziehung und lyrisch-musikalische Vortragskunst an der Universität der Künste Berlin, seine modulationsreiche Stimme. Er gibt einen lehrreichen und verständlichen Abriss vom Leben im Mittelalter und erläutert den Inhalt jener Vagantenlieder des 11. und 12. Jahrhunderts, die 1803 in der Bibliothek des Klosters Benediktbeuren aufgefunden worden waren. Auf Latein und Mittelhochdeutsch verspotten sie Klerus und Adel, künden von der Lust am Lieben und Saufen, von Frömmigkeit und heidnischen Lebensbräuchen. Den drei Teilen des Orffschen Opus sind damit drei Zäsuren gesetzt, die dem Verstehen des Kultwerkes sehr förderlich sind.
Den innigen Lobpreis des Frühlings dominieren die klangsatten Alte und schärfefreien Soprane auch beim Bericht vom Treiben „Uf dem Anger“. Später treten der Jugendkammerchor (Einstudierung: Claudia Jennings) und Mitglieder des Kinder- und Jugendchores (Einstudierung: Konstanze Lübeck) den stimmverführerischen Sängerinnen zur Seite. Es entsteht eine schwebende, klangschöne Leichtigkeit. Der lyrische Solobariton Alexander Knop lobt sehr zögerlich und stimmlich unausgeglichen, so als sei er indisponiert, die milde Sonne und die Erneuerung der Natur, die das Herz zur Liebe stimuliert. Und schon schießt Cupido seine Pfeile ab. Kaum vermag sich Knop im imaginären Wirtshaus („In Taberna“) gegen das detailachtende, frisch und lustvoll aufspielende Orchester durchzusetzen. Herrlich witzig in grotesker Falsettlage gestaltet Tenor Hartmut Kühn den Gesang des gebratenen Schwans. Wenn danach der Bariton von den Gelüsten des Abts eines Saufklosters singt („In taberna quando sumus“) bleiben viele Wünsche an sein Gestaltungsvermögen offen. Als minnewerbender Ritter am Hof der Liebe („Cour d’amour“) fühlt er sich hörbar wohler. Sopranlieblich und schwelgerisch entschwebt Yvonne Friedli übers hohe C hinaus in den siebten Himmel der Liebe. Eine famose Leistung. Auf dem Höhepunkt des ekstatischen Liebesrausches meldet sich die unberechenbare Glücksgöttin erneut zu Wort: „O Fortuna“ tönt es wie zu Beginn. Das Rad hat sich weiter gedreht. Der Jubel im Nikolaisaal kennt keine Grenzen. Peter Buske
Peter Buske
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