
© Manfred Thomas
Kultur: Immer vorwärts?
In Skulpturen wie dem Jahrhundertschritt artikulierte Wolfgang Mattheuer seine Weltsicht
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Die eine Hand gereckt zum ehemals „deutschen Gruß“, die andere zur Arbeiterfaust geballt, schreitet er weit aus. Nackt die eine Hälfte, mit Uniformhose bekleidet das andere Bein, der Kopf im Leib versunken. Mit einem „Jahrhundertschritt“ ist er in Potsdam angekommen.
„Ja, das ist die Zerrissenheit, in der wir uns als DDR-Bürger befunden haben“, stellte eine Passantin fest, als Hermann Schäfer einen kleineren Abguss der Skulptur des Malers und Bildhauer Wolfgang Mattheuer in Halle betrachtete. Schäfer, der den 2004 verstorbenen Mattheuer gut kannte, postierte den Jahrhundertschritt bereits auch vor dem Haus der Geschichte in Bonn, allerdings in einer bemalten und kleineren Version. Eingeklemmt zwischen einer nationalsozialistischen Vergangenheit und dem verordneten Sozialismus, genau dieses Lebensgefühl habe Mattheuer in der Skulptur artikuliert.
Die nun in Potsdam aufgestellte Figur ist die letzte von sechs gegossenen und aufgestellten Varianten und mit fünf Metern Höhe die größte. „Das ist die Größe, die sich Mattheuer gewünscht hat“, sagt Schäfer. Die Gussform sei nun zerstört worden. Versuche, die Figur vor dem Reichstag aufzustellen, scheiterten letztlich an fehlenden Parteimehrheiten. Warum wer dagegen stimmte, ist nicht bekannt. Die Größe der Figur kann wohl nicht der Grund gewesen sein, schließlich ist auch Eduardo Chillidas Skulptur vor dem Kanzleramt kein Kleinformat.
Ein „Sprengsatz“ sei die Skulptur, befand ein DDR-Parteifunktionär, als sie erstmals 1985 bei einer Leipziger Kunstausstellung gezeigt wurde. Zwar habe damals eine parteiinterne Diskussion über die Skulptur stattgefunden, aber so recht einordnen wollte die monströs verwachsene Gestalt niemand, kommentiert Schäfer.
Den eingeklemmten Krieger als Agitprop gegen Parteiuniformität und latenten Faschismus zu begreifen, wäre zu kurz gegriffen. Eine „Welt aus dem Gleichgewicht, einen Verlust der Mitte“, so habe der Künstler die 80er Jahre empfunden und darstellen wollen, meint sein Galerist Karl Schwind. Mit diesem Lebensgefühl befand sich Mattheuer in guter Gesellschaft. Auch im Westen artikulierten Filme wie das Weltuntergangsszenario „Koyaanisqatsi“ oder einige im wilden Gestus, gegenständlich gemalten Bilder der Maler der „Mühlheimer Freiheit“ sowie die „No Future“-Generation genau dieses Lebensgefühl. Mit zunehmendem Alter habe sich der 1927 geborene Mattheuer immer weniger für die Parteiraison und entsprechende Themen interessiert, stellt Schäfer fest. Ähnlich wie auch Werner Tübke, Harald Metzkes oder Bernhard Heisig hätten den Maler die „existentiellen Probleme der Menschheit“ beschäftigt, beispielsweise die Antagonismen der waffenstarrenden politischen Blöcke vor dem Zusammenbruch des Sozialismus. Die Künstler der DDR suchten und fanden eigene künstlerische Wege. Der vormals zur Doktrin erhobene Realismus wich in den 80er Jahren einer allegorischen, gegenständlichen Malerei, die sich klar von der im Westen lange Jahrzehnte dominanten Abstraktion unterschied. Strikt an der Figur geschult bestand für den gelernten Grafiker Mattheuer, der 1971 erste plastische Werke schuf, wenig Anlass, sich in expressiven Gesten auszutoben. Er schuf einen Bilderzyklus um die Mythengestalt des Ikarus als eine Figur, die mit ihren Idealen aufsteigt und doch daran zerbricht. Hier sah der Künstler anscheinend auch Parallelen bei der westlichen 68er Bewegung, denn auf der Rückseite einer Kohlezeichnung steht der Name Ulrike Meinhofs und ihr Todestag.
Anders als bei Mattheuers Ikarus, der meist stürzt oder verhöhnt wird, findet sich beim Jahrhundertschritt auch ein deutlich positiver Ausblick. Bei der 1984 gemalten und in Linol geschnittenen Version postiert der Maler unmittelbar neben dem kräftig ausschreitenden Fuß ein großes „D“. Das erkennbar gemalte Gesicht drückt Entschlossenheit aus. Schäfer weist darauf hin, dass die Figur einen Schritt nach vorne mache und dies nicht nur als Voranschreiten der Ideologien, sondern auch als positiver Fortschritt gedeutet werden könne. „Die Figur kann auch als Schritt zur Wiedervereinigung gedeutet werden, denn so hat Mattheuer gefühlt und gewünscht“, erklärt Schäfer.
Richard Rabensaat
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