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Verdammt in der Gruppe. Maguy Marins Erfolgsstück „May B“, inspiriert von Beckett und Musik Schuberts, das bereits seit 30Jahren tourt und nichts von seiner Aktualität verloren hat, eröffnet die Tanztage.

© fabrik/ Claude Bricage

Kultur: In erzählerischer Dichte

Vom 25. Mai bis 5. Juni finden die 21. Potsdamer Tanztage der „fabrik“ statt

Stand:

Lehmverschmierte maskenhafte Gesichter, verzerrte Körper, die im Gleichschritt über die Bühne schlurfen. Auch in der Gruppe wirken die zehn kauzigen Typen verloren – wie aus der Zeit gefallen. Ihre weißen Gewänder erinnern an Leichentücher. Es gibt ganz feierliche Momente im Kerzenschein, unterlegt mit Musik von Franz Schubert. Doch die werden sogleich vom nächsten Chaos überrannt. Jeder versucht, dem anderen ein Bein zu stellen und mit kleinen Gemeinheiten zu piesacken. „Wie können wir zusammenleben?“, ist eine zentrale Frage dieser legendären Inszenierung der großen französischen Choreografin Maguy Marin, mit der die diesjährigen Tanztage der „fabrik“ am 25. Mai im Nikolaisaal eröffnet werden.

„Ein Paukenschlag“, wie Marketing-Chef Laurent Dubost betont, denn die Inszenierung „May B“ wurde seit ihrer Uraufführung vor 30 Jahren über 600 Mal gezeigt und gilt als das erfolgreichste Tanzstück Frankreichs im Ausland. Inspiriert von Samuel Becketts „Warten auf Godot“ geht es um „einen Strand des Schweigens voller Unsicherheiten“, wie es Maguy Marin, Schülerin des Ballett-Revolutionärs Maurice Béjart, formulierte: Um Untiefen des menschlichen Mit- und Gegeneinanders, in die die Choreografin mit symbolträchtiger Sprache und überhöhten archetypischen Charakteren schaut.

Sven Till, der insgesamt14 Festivalproduktionen aus zehn Ländern für Potsdam auserkoren hat, ging es bei der Auswahl nicht um eine Hatz nach der höchsten Aktualität, sondern um Aussagen, die auch nach Jahren noch aktuell sein können, wie eben bei „May B“. Er zeigt auf seinem Laptop in der „fabrik“-Küche eine Reihe weiterer Festival-Splitter, darunter zahlreiche Deutschland-Premieren, auf die der Besucher während der zwei Wochen gespannt sein darf. Ganz im Sinne des Dramatikers Jean Genet, der über sein Arbeitscredo sagte: „Ich wollte verstanden werden“, geht es auch Sven Till darum, den Potsdamer Zuschauern Choreografien vorzustellen, die etwas mit ihrer Lebenswirklichkeit zu tun haben. „Und das passiert verstärkt wieder auf erzählerischer Ebene. Eine Rückbesinnung im zeitgenössischen Tanz“, wie Sven Till meint.

Auch Shang-Chi Sun greift in seiner Arbeit „Je.Sans.Paroles“ zu Beckett, auf die „Akte ohne Worte“: ein Stück ohne Text, nur mit Regieanweisungen. Es zeigt, wie ein Mensch in einer Welt zurecht kommen muss, die er nicht kennt. Immer neue Objekte fliegen auf die Bühne: ein Würfel, eine Schere. Wie ein Versuchskaninchen im Labor versucht der einsame Held, die Dinge zu ergründen. Doch all seine Clevernis nutzt ihm nichts. Er will die Welt aus den Angeln heben, doch die Gravität zieht ihn immer wieder zu Boden. „Shang-Chi Sun ist ein begnadeter Mover mit einem extremen Bewegungspotential: präzise, schnell fließend und auf Elemente der asiatischen Tanztradition zurückgreifend“, sagt „fabrik“-Tänzer Sven Till. Dem Taiwanesen wird an diesem Doppelabend eine andere Produktion aus seiner Heimat gegenübergestellt: „Loop me“ der Choreografin Wen-Chi-Su. Hier gibt es nichts Erzählerisches. Allein die Bewegung zählt, die durch Videoanimation geloopt, verlangsamt, beschleunigt wird, so dass am Ende niemand mehr weiß, was live und was gefilmt ist.

Während bei „Loop me“ die Rasanz der Bilder dominiert, geht es bei dem Franzosen Fabrice Lambert fast in Zeitlupe zu. Auch bei ihm vervielfacht sich der Mensch, aber auf ganz durchsichtige Weise. Er steht im Wasser und das reflektierende Licht wirft seinen Schatten auf die Leinwand. Wunderbar poetische Bilder entstehen: mal wächst der Tänzer über sich hinaus, dann wieder löst sich sein Schatten und geht eigene Wege. Obwohl es keine Trickserei gibt, schaut man doch staunend der Verwandlung zu.

Durch die Dichte der Bühnen in der Schiffbauergasse, die die „fabrik“ in diesem Jahr besonders gut nutzt, finden auch Produktionen ihren Platz, die nur vor einem kleinen intimen Zuschauerkreis gezeigt werden können. Bei „Stan’s Cafe“ aus England sitzen die Besucher frontal vor einem Tunnel – aufgebaut in der Schinkelhalle – und müssen sich auf eine Zeitreise einlassen, in der man vor- und zurückspringt. Da geht es um Tschernobyl und den Holocaust, um Abu Graib und den Serbien-Krieg. Die Welt als Korridor, zu dem sich immer neue Türen in die Dunkelheit öffnen. Dazwischen zieht ständig ein Reiningungstrupp mit Schrubbern den Gang entlang. Doch können wir uns vom vergangenen Unheil reinigen? „The Cleansing of Constance Brown“ ist ein vier Jahre altes Stück, doch dieser Zeittunnel führt direkt ins Heute. Auch wenn die Orte der Katastrophen andere Namen tragen.

Am Ende des kleinen Festival-Vorgeschmacks aus der „Konserve“, den Laurent Dubost und Sven Till begeistert kommentieren, wirbeln die Impressionen nur so durcheinander. Doch es bleibt der Eindruck, keinen der Abende versäumen zu dürfen.

Im Internet:

www.fabrikpotsdam.de

Die Tanztage vom 25. Mai bis 5. Juni im Überblick

25. Mai, 20 Uhr
Nikolaisaal
Maguy Marin „May B“

26. Mai und 27. Mai,
jeweils 20 Uhr
fabrik
Doppelabend:
Fabrice Lambert (F) „Gravité“/ Daniel Abrau (E) „ Perro“

28. Mai, 20 und 22 Uhr
sowie
29. Mai, 16 und 18 Uhr
Schinkelhalle
Stan’s Cafe (UK)
„The Cleansing of Constance Brown“
29. Mai 20 Uhr, T-Werk
Doppelabend
Kyung Yung-Aero (KO) „Unspecific language“
Malgorzata Haduch (PL)
„Zona Segura“

30. und 31. Mai,
jeweils 20 Uhr, fabrik
Gunilla Heilborn (S)
„The five year plan“

1. und 2. Juni,
jeweils 20 Uhr, T-Werk
Antoine Defoort & Julien Fournet (B/F) „Cheval“
1. Juni 21 Uhr, fabrik
Ballett Greifswald: Sebastian Matthias (D) „Nordische Weise“/
Sybrig Dokter und Benno Voorham (S/NL) „Es ist nur ein weinendes Stück“

3. Juni 20 Uhr sowie 4. Juni 21 Uhr fabrik Zero Visibility Corp. (Im)Possible

4. Juni 16 Uhr Schinkelhalle
Malgven Gerbes, David Brandstätter & Gäste „Potsdamer Atelier: Interaktive Choreografie & Counting“
4. Juni 17.30 Uhr,
5. Juni 16 Uhr
Reithalle A
Odile Seitz (F/D) „No Limit!“ Premiere

4. Juni 19 Uhr,
sowie
5. Juni 18 Uhr
Reithalle A
Yilab. (TW) „Loop me“/ Shang-Chi Sun (D/TW) Je.Sans.Paroles

5. Juni 20 Uhr
fabrik
Lucky Trimmer Tanz Performance Serie

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