
© Sophia Zoë
25 Jahre Deutsche Einheit: Gespräche über Freiheit (VI): „In London bekam ich Depressionen“
Was war, was ist, was bleibt: Die Regisseurin Lydia Ziemke über eine verlorene Kindheit und die Dritte Generation Ost
Stand:
Frau Ziemke, gab es einen Moment für Sie, wo Sie begriffen haben, dass es das Land, in dem Sie geboren wurden, nicht mehr gibt?
Ja. Ich muss sofort an meinen alten Mathelehrer auf Hermannswerder denken, Herr Müller. Hermannswerder ist ja zu DDR-Zeiten als Schule für Oberschüler entstanden, die woanders nicht ihr Abitur machen durften, vor allem Pfarrerskinder. Es gab eine alte Lehrergarde aus Ost-Zeiten, der standen plötzlich die Neuen aus dem Westen gegenüber. Für mich wurde die Schule dadurch ein Mikrokosmos, durch den ich viel über den Wandel begriffen habe. Hermannswerder wurde für mich zu einer Art idealem Ort, wo es war, wie der Sozialismus in der DDR eigentlich hätte sein sollen. So wie ihn Leute wie Heiner Müller und Christa Wolf beschrieben hatten. Und den Mathelehrer habe ich damals als Verräter dieses Ideals wahrgenommen. Er hatte sich meiner Meinung nach völlig verdreht, sich auf die „neue“ Seite geschlagen und die „alten Ideale“ verraten.
So haben Sie das damals wahrgenommen – die guten, alten Ideale und die Invasion eines neuen, bösen Systems?
Ja. Obwohl es da ein Paradoxon gab. Mir war klar, dass diese Lehrer nicht unbedingt etwas verkörperten, was in der DDR gut gewesen war. Sondern deren Opposition gegen den Staat, deren Fähigkeit, in der DDR eine eigene Realität zu kreieren, hat mich schwer beeindruckt. Der Schulleiter der alten Garde war dann leider als Direktor völlig unfähig, die neue Struktur mitzugestalten. Aber mir war das irgendwie sympathisch.
Sie kamen kurz nach der Wende nach Hermannswerder?
Ja, 1991, mit 13. Mitten in der Pubertät. Wobei total seltsam ist: Das, was ich als Pubertät erinnere, ist die Zeit, als ich erst elf, zwölf Jahre alt war.
Autoren der Dritten Generation Ost schreiben das immer wieder: Mit der DDR ging meine Kindheit zu Ende. Hat das damit zu tun, dass die Kinder ihre Eltern plötzlich als schwach erlebten, angreifbar, weil sie keine Alleswisser mehr waren?
Vielleicht. Ich war elf, als die Mauer fiel. Zu der Zeit trennten sich meine Eltern, und ich war ziemlich frühreif. Aber vielleicht stimmt auch, was Sie sagen. Ich erinnere mich, dass wir im Oktober 1989 im Urlaub an der Ostsee waren und meine Mutter und ein paar Freunde saßen jeden Abend am Radio und heulten. Das hat mich sehr beeindruckt. Da habe ich wirklich eine Verwundbarkeit bei den Erwachsenen bemerkt. Das war nicht schlimm für mich, sondern sie waren plötzlich richtige Menschen.
Und das war wahrscheinlich erst der Anfang. Nach der Wende, nach diesen Tränen, ging das Chaos für die Eltern doch erst richtig los?
Naja, an die Freudentränen zum Mauerfall kann ich mich nicht erinnern. Meine Mutter konnte schon länger in den Westen reisen, weil ihre Verwandten so alt waren. Einige starben, und sie durfte drüben zur Beerdigung. 1989 war da bei meiner Mutter nicht nur Euphorie. Sie stand dem Wandel auch kritisch gegenüber. Meine Eltern, die beide im Krankenhaus arbeiteten, haben immer erzählt, dass dort alles den Bach runter ging. Da sind plötzlich lange gewachsene Strukturen zerfallen. Dass sich dort alles nach marktwirtschaftlichen Prinzipien umorientierte, hat sie fertig gemacht. Wie in meiner Schule wurden auch im Krankenhaus die Alten rausgeekelt.
Wurden die Eltern damals für ihre Kinder unsichtbar?
Ja, sie haben immer noch viel gearbeitet und ich machte, was ich wollte. Ich erinnere mich, dass wir damals den Jugendclub in Caputh aufgebaut haben, das war im Ort irgendwie wichtig. Eine große Errungenschaft, wir haben viel selbst gemacht. Ich fühlte mich da sehr geborgen, zu Hause war am Tag selten jemand. Ich hatte das Gefühl, wir machen da was zusammen.
Stimmt das, dass Sie im Jugendclub des Hans Otto Theaters Konsumkritik gelernt haben?
Ja, im Jugendtheater mit Lorenz Hippe. Da war ich 15 und älter. Wir hatten auf jeden Fall ein wahnsinniges Wirgefühl. Lorenz kam aus Westdeutschland und suchte mit uns zusammen nach Veränderungen seit 1989 in Potsdam. Eine war das neue Hertie-Kaufhaus in der Brandenburger Straße. Dass man an alles ein willkürliches Preisschild hängen kann, war für uns neu. Daraus haben wir eine Szene entwickelt, in der ich als Prostituierte in einem Schaufenster sitze und gekauft werden kann. Dass man sich als Mensch verkauft, hat uns geschockt. Ich habe immer an die absolute Freiheit geglaubt. Als ich dann in Großbritannien lebte, habe ich zum ersten Mal Einschränkungen gespürt. Allein, dass man immer behaupten musste, man sei in allem die Beste, hat mich total befremdet. Als ich an der Theaterschule in London war, bekam ich Depressionen. Da wurde allen suggeriert: Ihr könnt es schaffen, wenn ihr euch richtig anpasst. Stattdessen hätte man den schlechten Schauspielern sagen müssen, dass der Beruf keine gute Idee für sie ist. Ich hab’ da beschlossen, das nie zu machen.
Das Sich-Verkaufen?
Ja. Natürlich gelingt das nicht immer, und teilweise gereicht es einem auch zum Nachteil. Ich beschäftige mich zum Beispiel seit Langem künstlerisch mit arabischen Ländern, habe das aber nie an die große Glocke gehängt, auch nicht, als es dann groß in Mode kam. Dadurch hat man vielleicht weniger Aufmerksamkeit, aber das ist mir völlig egal. Das ist das Ergebnis einer Bewusstseinskette, die in der Schule begann, als ich mit dem Gefühl von völliger Freiheit loszog. Diese Freiheit ging dann zwischendurch verloren, aber heute versuche ich sie mit aller Kraft zu verteidigen. Dazu gehört es, eine Kompanie zu führen, in der es finanziell funktioniert, aber auch andere Sachen wichtig sind.
Sie haben Mark Ravenhill, einem der wichtigsten englischen Gegenwartsdramatiker, Nachhilfe in Sachen Osten gegeben, als er 2009 „Over There“ schrieb. Ein Stück über die Wiedervereinigung, das in der deutschen Presse nicht gut wegkam. Was hatte Ravenhill nicht verstanden?
Ich hatte sein Stück „Shoppen und Ficken“ inszeniert und fand darin wunderbar wieder, was im galoppierenden Kapitalismus mit den Menschen passiert. Er hat aber nie verstanden, was mit den Menschen im Sozialismus passiert war. Für „Over There“ haben wir vier Wochen lang deutsch-deutsche Zwillingspaare befragt. Als ich dann das Stück las, dachte ich: Nein, das geht so nicht! Er spielt in dem Stück die beiden Brüder, einer aus dem Osten, einer aus dem Westen, gegeneinander aus. Alles extrem vereinfacht. Der Osten wird darauf reduziert, was es nicht zu kaufen gab, anstatt danach zu suchen, was nicht greifbar, nicht materiell war. Dass die Wende auch dem Westen viel gebracht hat, kam nicht vor. Nur, wie der Osten nach allem Westlichen getrachtet hat.
So war es doch! Wollte der Osten nicht vom Westen „verschlungen“ werden, wie es Ravenhill zeigt?
Stimmt. Aber vielleicht wollten sie eher selber schlingen. Und das Stück ignoriert auch völlig die Gedanken des Dritten Weges, und die Ernüchterung danach. Ja, die meisten wählten 1990 Kohl. Wenige erahnten die große Leere hinter den Verpackungen. Verpackungen gab’s im Stück, aber nicht die Leere. Das Problem am heutigen Blick auf die DDR ist, dass das aus einer Perspektive passiert, die zum großen Teil nicht echt ist, eine Pseudo-Moral. Als ich nach England ging, habe ich das stark gespürt: dass uns eine Freiheit vorgegaukelt wurde, ein Individualismus, der uns aber erzieht, gute Verbraucher zu werden. Im Gegensatz zu meinen Eltern konnte ich mich überall frei entfalten, als Künstlerin arbeiten. Ohne ihre finanzielle Unterstützung hätte ich das aber nicht geschafft. Mein Vater wollte Schauspieler werden, fand es aber in der DDR wegen der Unfreiheit sinnlos. Meine Freiheit fühlt sich oft so total an, dass da auch jeder Sinn verloren geht.
Kennen Sie Ostalgie?
Ja. Es geht dabei aber nur um bestimmte Menschen, meine Eltern und Freunde meiner Eltern, die für mich damit verbunden sind. Eine Dokumentarfilmerin, eine Requisiteurin, Schauspielerinnen. Die haben eine Haltung. In der Unfreiheit sind sie standfester geworden, als wir es je sein werden. Es geht nie nur darum, was es mal gab, sondern nur darum, ständig etwas zu verwirklichen, das es nie gab. Ergibt das Sinn?
Es erinnert daran, was der Fotograf Göran Gnaudschun bereits in dieser Interview-Reihe sagte: Lasst uns das paradoxe Denken pflegen. Sein Held ist Camus’ Sisyphos, ein Utopist.
Ja, man muss sich Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen. Für mich ist, nach dem zu streben, was die Frauen um meine Eltern wollten, jetzt eine Utopie. Ich empfinde es als ein großes Glück, die zu haben, mit meiner kurzen DDR-Geschichte und diesen Menschen heute. Es scheint im Kern etwas Erstrebenswertes in der DDR gegeben zu haben, was man nur über Einfallsreichtum und Widerstand gegen das System erreichte. Diese Frauen waren nie für das System, aber auch nie nur für die andere Seite, wie der Ostzwilling bei Ravenhill – das war für mich immer völlig logisch. Sie sind heute noch sehr energiereich darin, ihre persönlichen Ideale zu leben. Ich werde von vielen belächelt, dass ich viel zu idealistisch bin. Meine Produktionsleiterin sagt immer, wenn wir über Budgets sprechen: Denk doch mal an dich. Aber da kann ich nur sagen: Das ist doch total langweilig.
Das Gespräch führte Lena Schneider
Lydia Ziemke
, geboren 1978, wuchs in Caputh auf und ging in Potsdam-Hermannswerder zur Schule. Sie studierte Latein und Griechisch, später Regie in Großbritannien. Auf Umwegen durch arabische Länder kam sie nach Berlin und führt jetzt eine internationale Theaterkompanie, oft in Zusammenarbeit mit arabischen und auch geflüchteten Künstlern. Zusammen mit dem Flüchtlingsaktivisten Patras Bwansi hat sie einen Essay geschrieben. Im Moment erarbeitet sie mit Anne Rabe und Peca Stefan ein Stück über rumänische Musiker im geteilten Deutschland („And then we took Berlin“), und mit Schauspielern aus Deutschland und Afghanistan ein Stück von Dea Loher zu analogen und digitalen Kriegserfahrungen („War Zone“).
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: