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Kultur: In neuen Gewässern

„Anbaden“ mit Tiefgang: Jan Liedtkes „Kamikaze Pictures“ hatte im Jungen Theater des HOT Premiere

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„Freischwimmer? Rettungsschwimmer?“ Der Bademeister, Trillerpfeife, knappe Badehose und Latschen, will es wissen. Niemand entgeht seiner Wachsamkeit. Gewissenhaft, ein bisschen streng, ein bisschen frech. Schon beim Betreten der Reithalle A ahnt man: Das ist kein Ort zum Verstecken. Weder für Schauspieler, noch für das Publikum. Es ist nicht das letzte Mal, dass die Zuschauer aus ihrer passiven, genießerischen Verbraucherhaltung geholt werden, und es ist auch bei Weitem nicht das letzte Mal, dass wir nackte Beine oder Hintern zu sehen bekommen.

„Anbaden“ war der thematische Schlachtruf, mit dem das Hans Otto Theater am Samstag seine neue, auf junge Themen und gesellschaftliche Fragen ausgerichtete Sparte „Junges Theater“ eröffnete. Ab 18 Uhr konnte man in der Schiffbauergasse neben Badehosen und Liegestühlen im 15-Minuten-Takt auch Texte rund um das Schwimmen erleben. „Alfons Zitterbacke“ im Foyer etwa, Armin Petras'' „Auf dem Weg zur Hochzeit“ auf dem Vorplatz oder Erich Loests „Es geht alles seinen Gang“ hinter der Bühne. Dass das Hans-Otto-Theater Ende September, zu einer Zeit, wo selbst Hartgesottene sich nicht mehr ins Wasser trauen, frech zum „Anbaden“ lud, versprach eine spielerisch anarchische Gleichgültigkeit gegenüber Gewohntem. Während das Vorprogramm trotz der bunten, energiegeladenen Spiellust noch in eher vertrauten Wassern plantschte, wurde das Versprechen mit der Premiere des Eröffnungsabends vollends eingelöst. Die Gewässer von Jan Liedtkes „Kamikaze Pictures“ sind nicht nur einfach sprachlich erfrischend kühl, sondern verdammt kalt. Vor allem in den tieferen Schichten.

Dabei beginnt „Kamikaze Pictures“ so poppig, lässig und unbedarft, so unglaublich schick. Das liegt auch an den cool bis knalligen Kostümen von Susanne Füller, aber vor allem an Matthias Schallers hervorragend gebauter Schwimmbad-Bühne. Während sich das Publikum noch zwischen die türkisblauen Kacheln des Bühnenbilds setzt wie auf den Grund eines Beckens, marschiert ein Badehose tragender Moritz Führmann als Andy am Beckenrand auf die fast leere Bühne, tigert auf und ab, plaudert mit Henry (Andy Weichbrodt), testet das Mikro. Fast unbemerkt beginnt so das Stück um den liebeskranken Andy, der seine Liebste Linda nur einmal gesehen hat und seinen Kumpel Henry jetzt überredet, sie mit ihm gemeinsam zu suchen. Das Licht im Saal – oder besser: im Becken – bleibt grell, nur ab und an wird es gedimmt. Wir verschwinden nicht im Dunkel, sondern müssen mit anpacken: Ein Zuschauer liest die Bühnenanweisungen, ein anderer streut Schnee.

Das spielerische Brechen der unsichtbaren Wand, die Zuschauer und Publikum trennt, ist hübsch und sicher auch gerade modern, jedoch nicht nur Theater-Gag. Denn die Welt in „Kamikaze Pictures“ ist eine, in der sich niemand verstecken kann, bevölkert von Kameras, Leinwänden, Internet. Andy ist besessen, nicht nur von Linda, sondern auch von sich selbst und den multimedialen Suchmöglichkeiten, die unsere Zeit bietet. Er beklebt die Stadt mit Phantombildern, filmt einen „Linda-Such-Clip“. Seine Suche macht ihn zum Star und die Gesuchte zu einem fiktiven Abklatsch ihrer selbst. Als endlich eine Linda, gespielt von Caroline Lux, auftaucht, will er sie nicht erkennen. Seine mediale Linda ist so ideal, dass die Realität nicht mithalten kann.

Petra-Luisa Meyers Regie macht diesen Irrsinn deutlich, indem sie frotzelnd und multimedial mit dem Publikum spielt. Sie lässt die Schauspieler das Geschehen kommentieren („Immer diese Ärsche auf der Bühne!“), lässt Filmszenen aus „Gefährliche Liebschaften“ oder „Wild at Heart“ mitspielen. Eine Videoprojektion der Gesuchten hängt mahnend über der Szenerie: Alle kennen sie, und doch niemand.

Moritz Führmann ist das atemlose Triebwerk der Inszenierung, er spielt seinen verrückten Andy als Berserker, der seine Wunden braucht, um kämpfen zu können, als Charmeur mit dem Publikum, als traurigen Clown, ironisch und rotzfrech. Wenn das „Junge Theater“ hält, was der Auftakt verspricht, dann brechen neue Zeiten an für das Jugendtheater in Potsdam. Stürmisch, kritisch, mit Mut zur Leichtigkeit. Und zur Tiefe. Lena Schneider

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