Kultur: In Potsdam war er wohl nie
José Antonio Boccherini y Sánchez über seinen Vorfahren Luigi Boccherini, „Hofkompositeur“ Friedrich Wilhelm II.
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Aus Anlass des Boccherini-Spezials bei den Musikfestspielen Sanssouci am heutigen Mittwoch, Donnerstag und Freitag ist José Antonio Boccherini y Sánchez, direkter Nachfahre in sechster Generation von Luigi Boccherini, nach Potsdam gekommen.
Herr Boccherini, ...
Bevor ich Ihre Fragen beantworte, möchte ich sagen, dass ich Potsdam, einer Stadt mit Boccherini-Nachklängen, ein ganz besonderes Gefühl entgegenbringe. Denn hier residierte Friedrich Wilhelm II, der Luigi Boccherini als Kammerkomponist ernannt hat. Über 15 Jahre, von 1783 bis 1798, komponierte er für den König und sandte ihm zahlreiche Partituren von Sinfonien, Divertimentos, Trios, Quartette und Quintette, die heute im Archiv der Staatsbibliothek zu Berlin aufbewahrt werden.
Vermutlich war Boccherini immer eine wichtige Person in Ihrer Familie, da ja bereits zwei seiner Nachfahren Bücher über den Komponisten geschrieben haben.
Natürlich habe ich nicht alle Nachkommen von Luigi Boccherini kennengelernt, aber einige haben sich sehr intensiv mit unserem Komponisten-Vorfahren beschäftigt. Einer ist mein Urgroßvater Alfredo Boccherini y Calonje gewesen, der im Jahr 1879 ein kleines Buch geschrieben hat, um den Komponisten bekannt zu machen, der zu jener Zeit in Spanien ja fast unbekannt war. Ferner hat Gonzálo Pérez Morales, ein Ingenieur, der mit meiner Tante Maria Antonia Boccherini verheiratet war, einige wertvolle Dokumente gefunden, wie das letzte Testament des Musikers, und ein Buch vorbereitet, das nicht erschienen ist.
Vor kurzem ist es in dem Band „Boccherini en familia – Boccherini in Familie“ erschienen. Sie selber haben ebenfalls viel Zeit mit der Erforschung von Boccherinis Geschichte verbracht.
Ich bin Rechtsanwalt und habe mein ganzes Arbeitsleben diesem Beruf gewidmet. Nach dem Rückzug aus meiner Kanzlei im Jahr 1996 habe ich fünf Jahre lang das Leben von Boccherini in Spanien erforscht. Er hat ja praktisch das gesamte Erwachsenenleben, vom 25. Lebensjahr bis zu seinem Tod im Alter von 62 Jahren im Jahr 1805 in Spanien verbracht.
Was haben Sie herausgefunden?
Meine Recherche in vielen zivilen und kirchlichen Archiven ergab, dass Boccherini zweimal verheiratet war, zuerst mit einer italienischen Sängerin aus Rom, Clementina Pelliccia, die 1785 gestorben ist und mit der er sieben Kinder hatte. Die zweite Ehe schloss er mit Pilar Joaquina Porreti, Tochter eines Cello-Kollegen, mit der er keine Kinder hatte. Sie starb wenige Monate vor dem Künstler im Jahr 1805. Auch fand ich heraus, dass von seinen sieben Kindern vier weiblich waren und sehr früh ohne Nachkommen starben, ein Junge starb im Säuglingsalter und von den beiden übrigen wurde der ältere Priester und nur der zweite, José Mariano, heiratete und bekam einen einzigen Sohn, Fernando.
Gab es überraschende Entdeckungen?
Als Überraschung könnte man die Todesbescheinigung des ersten Sohnes von Boccherini erwähnen, Félix Luis, dessen Existenz gar nicht bekannt war.
Zu seiner Zeit hatte Boccherini als Komponist einen sehr guten Ruf in praktisch allen Ländern Europas. Doch schon kurz nach seinem Tod, oder sogar schon davor, fiel seine Musik in Ungnade. Welche Gründe kann es für den radikalen Umschwung geben?
In der Tat war Boccherini zu Lebzeiten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einer der am meisten geschätzten Musiker in Europa und geriet mit seinem Tod in Vergessenheit, was mehr als ein ganzes Jahrhundert lang so blieb. Es gibt verschiedene Gründe für diese lange Ablehnung, aber einer der wichtigsten ist vielleicht der Wechsel in der musikalischen Mode. Die Romantik wurde immer beherrschender. Das führte dazu, dass die ältere Musik mehr oder weniger ins Abseits geriet.
Wie hat sich die Rezeption von Boccherini in den letzten Jahren verändert?
Spätestens seit Beginn dieses Jahrhunderts gibt es eine spektakuläre Wiedergeburt seiner Musik und seiner Figur. Die Forschungen zu seinem Leben und Werk haben außerordentlich zugenommen. Immer häufiger werden seine Kompositionen in Konzerten und im Radio gespielt, erklingen in Filmen und Veranstaltungen. Es existiert auch bereits eine große Anzahl von Büchern über ihn.
Immer noch existiert die Annahme von einem Treffen zwischen Boccherini und seinem preußischen Mäzen Friedrich Wilhelm II. Was denken Sie darüber?
Ich habe mit sehr großem Interesse über die mögliche Reise von Boccherini nach Potsdam geforscht, die viele für möglich hielten und immer noch halten. Aber ich habe nicht ein einziges Dokument gefunden, dass diese Reise bezeugt, sondern vielmehr Indizien, die darauf hindeuten, dass sie nicht stattgefunden hat.
Eine weitere Legende besagt, dass das persönliche Archiv von Boccherini während des Spanischen Bürgerkriegs von 1936 bis 1939 zerstört ist. Können Sie etwas dazu sagen?
Sehr gern, um eine Legende aufzuklären, die falsch ist und leider aus meiner Familie stammt. Als die Baronin Rothschild, die eine Biographie über Boccherini geschrieben hat, und der Musikwissenschaftler Yves Gérard, Verfasser des Gesamtkatalogs von Boccherinis Werken, bei einem Besuch meiner Familie davon hörten und darüber berichteten, hat sich diese Legende, unterstützt durch andere Autoren, weit verbreitet. In Wirklichkeit ist das Archiv mit Boccherinis Papieren schon 1919 verschwunden und wir wissen nicht, ob es während des Spanischen Bürgerkriegs zerstört worden ist. Aber vielleicht tauchen sie eines glücklichen Tages an einem unerwarteten Ort wieder auf. Diese Möglichkeit, so fern sie auch erscheint, möge all jene ermutigen weiter nach Dokumenten zu suchen, die ein helles Licht auf einige Punkte in der Biographie von Luigi Boccherini werfen könnten.
Sie haben im Jahr 2003 die Asociación Luigi Boccherini gegründet. Was war das Motiv?
Als das zweihundertjährige Todesjahr des Komponisten im Jahr 2005 heranrückte, dachte eine Gruppe von Musikern, Musikwissenschaftlern und Freunden der Musik von Boccherini, dass diese runde Jahreszahl ein guter Anlass wäre, um seine Musik zu verbreiten und ihn bekannter zu machen und schließlich dorthinzubringen, wo er nach unserer Ansicht hingehört, zusammen mit Haydn und Mozart als einer der Bannerträger der musikalischen Klassik.
Welche Gefühle haben Sie persönlich beim Anhören der Musik von Boccherini?
Ich glaube nicht, dass meine Gefühle sehr interessant sind, da sie schon durch die familiäre Beziehung sublimiert sein können. Aber was ich sagen möchte, ist, dass bei den zahlreichen Gelegenheiten, wenn ich die Musik von Boccherini bei Konzerten und Festivals zusammen mit anderen gehört habe, ich immer wieder fühle, dass es wahr ist, was der Violinist Jean Baptiste Cartier gesagt hat: „Wenn Gott zu den Menschen in Musik reden wollte, dann täte Er es mit den Werken von Haydn, wenn Er aber selber Musik hören wollte, wählte Er die Musik von Boccherini.“
Das Gespräch führte Babette Kaiserkern
Weitere Informationen zur Asociación Luigi Boccherini unter
www.luigi-boccherini.org
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