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Wahrheitssucher. Heiner Carow.

© dpa

Kultur: In seiner Seele war er ein Hippie

Erstmals wird am heutigen Donnerstag auf der Berlinale der Heiner-Carow-Preis verliehen

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Die besten Filmgeschichten schreibt immer noch das Leben. Zum Beispiel die, wie es zum späteren Hit „Wenn ein Mensch lebt“ für den Defa-Streifen „Die Legende von Paul und Paula“ kam. Filmkomponist Peter Gotthardt hat die Situation mit Regisseur Heiner Carow aus dem Jahr 1972 noch plastisch vor Augen: „Ich hämmerte wütend ein paar Beethoven-Akkorde in die Tasten, weil Heiner mein erster Vorschlag nicht gefiel. Daraufhin sagte er: Das isses! Mach was draus.“

In diesen Berlinale-Tagen 2013 ist der Name des Meisterregisseurs (1929-1997) aus Potsdam wieder öffentlich präsent, denn am heutigen Donnerstag wird erstmals der Heiner-Carow-Preis verliehen. „Ich freue mich, dass es diesen Preis gibt“, sagt Gotthardt. Er sitzt in seinem Haus in Berlin-Mahlsdorf vor einem Flügel. Aus den Klängen des 3. Satzes der 9. Sinfonie von Beethoven, aus einem Lied von Slade und von den Bee Gees verwandelt er nach und nach „Wenn ein Mensch lebt“ und „Geh zu ihr“, den zweiten von den Puhdys gespielten Song, die den DDR-Kult-Film maßgeblich mitprägten.

Aber wer war Carow? „Er war eigentlich ein Hippie in seiner Seele“, sagt Gotthardt. „Die Legende von Paul und Paula zum Beispiel habe ich als absolut chaotische Produktion in Erinnerung; da wurden schon mal ganze Szenen nachts umgeschmissen.“ Andererseits habe Carow seinen Mitstreitern ideale Bedingungen geboten, indem er alle Beteiligten früh in die Arbeit einbezog, schwärmt Gotthardt, der insgesamt fünf Filme mit ihm machte. Immer wieder betonte der Komponist das große Vertrauen, das ihm Carow bei allen Filmen, besonders aber bei „Paul und Paula“ entgegengebracht habe. „Er redete mir nicht hinein. Das habe ich bei keinem anderen Regisseur erlebt.“ Ihre erste gemeinsame Arbeit entstand 1968 mit „Die Russen kommen“. Darin verarbeitete Carow, der sich zuvor mit „Sie nannten ihn Amigo“ (1958) und „Die Reise nach Sundevit“ (1966) einen Namen gemacht hatte, Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg.

„Die Russen kamen aber nicht, weil die Russen kamen“, kommentiert Gotthardt sarkastisch mit Blick auf den sowjetischen Einmarsch in Prag das Verbot durch die SED-Staatsführung damals. Der Film wurde zerstört. Allein weil Carows Frau Evelyn heimlich eine Kopie ins gemeinsame Haus unweit der Filmstudios in Babelsberg mitgenommen hatte, blieben Fragmente erhalten, die später als verstümmelte „Russen“-Version in Carows Film „Karriere“ (1970) auftauchten. Im Laufe der Jahre sollte Evelyn Carow zur gefragtesten Schnittmeisterin der Defa avancieren. Noch heute lebt sie in dem Haus in Potsdam.

„Dieses Verbot des Russen-Films und das Beinahe-Verbot der ,Paula’ haben Heiner gebrochen“, sagt Gotthardt. „Du sollst nicht lügen!“ ziehe sich als Maxime durch seine Werke. Gotthardt überwarf sich letztlich mit Carow bei der gemeinsamen Arbeit an „Bis dass der Tod euch scheidet“, einem Drama von 1978, das mit brutaler Offenheit dem Phänomen Scheidung in der DDR auf den Grund geht.

Ebenfalls noch heute auf die Arbeit mit Carow angesprochen wird Matthias Freihof, der die Hauptrolle in „Coming Out“ (1988) spielte. Der Regisseur und Schauspieler ist viel beschäftigt. Zuletzt brillierte er am Berliner Schlosspark Theater als „Insbürogeher“ im Märchen „Der kleine König Dezember“.

In „Coming Out“ spielte er einen Lehrer, der sich und anderen sein Schwulsein nur langsam eingesteht – für die DDR eine Sensation. „Der Film wird auf Ewigkeiten mit der Zeit damals verbunden sein. Nicht nur, weil er am Tag des Mauerfalls Premiere hatte“, sagt er. „Schließlich geht er weit über Homosexualität hinaus, er ist ein tolles Zeitdokument.“

Während der Arbeit selbst habe Carow die Schauspieler immer wieder gewähren lassen und selbst Vorschläge, ja ganze Textpassagen übernommen. „Die erste Liebesszene zum Beispiel haben Dirk Kummer als mein Partner und ich mit dem Kameramann erarbeitet“, sagt Freihof. Gemeinsam sei eine regelrechte Choreografie entstanden, die seiner Erfahrung nach selbst Heterosexuelle in den Bann zieht.

Auch bei diesem Film habe Carow gegen Einflüsse von oben, in diesem Fall von der mittleren Ebene kämpfen müssen. „Die S-Bahn-Leitung wollte nicht, dass wir prügelnde Nazis in ihren Zügen zeigen. Und auch der Chef des Konzerthauses am Gendarmenmarkt sträubte sich zunächst“, weiß Freihof. Am Ende hätten sechs Stunden Drehmaterial vorgelegen. „Was Heiner daraus mit seiner Frau zusammengeschnitten hat, ist schon sehr gelungen“, sagt Freihof stolz. Der Film erhielt den Silbernen Berlinale-Bären.

Dann wird Freihof nachdenklich. „Es ist tragisch, dass Heiner seine wirklich großen Geschichten nie machen konnte, darunter die Verfilmung des Simplicissimus.“ Tatsächlich drehte Carow nach der Wende nur Fernsehserien, darunter „Praxis Bülowbogen“. Torsten Hilscher

Torsten Hilscher

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