Kultur: Innenansichten
Das Einstein Forum zeigt eine Serie von Familienporträts des Fotografen Christian Borchert
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Es gibt sie noch, die intakte Familie. Das jedenfalls lassen die Fotos von Christian Borchert vermuten, die gegenwärtig im Einstein Forum zu sehen sind. Landwirt und Hausfrau, Archäologe und Ärztin, Sachbearbeiterin und Verwaltungsdirektor: Menschen aus allen Schichten hat Borchert fotografiert. Zunächst, als der real existierende Sozialismus noch das Leben der Porträtierten bestimmte, in den Jahren 1974 bis 1985. Dann, als der Systemwechsel bereits stattgefunden hatte, in den Jahren 1993 bis 1994.
Den historischen Bruch, der sich zwischen den beiden Bilderserien ereignete, hat der Fotograf ebenso wenig vorhergesehen wie die Familien, denen er sich behutsam genähert hat. Immer den gleichen Winkel, den gleichen Abstand, die gleiche Blende hat er für seine Bilder gewählt. Was zunächst als eine Schilderung der Gegenwart des Arbeiter- und Bauernstaates gedacht war, geriet unversehens zu einem Dokument über die Kontinuität von Lebens- und Beziehungskonzepten auch über die Zeiten und Systeme hinaus. Die älter gewordenen Porträtierten sind sich treu geblieben. Manche, aber nur sehr wenige, haben andere Berufe ergriffen. Das Interieur mancher Wohnungen hat sich ein wenig verändert, aber die Konstellationen bestehen weiter, auch wenn Kinder hinzugekommen sind und die Familie gewachsen ist. Das jedenfalls suggerieren die Fotos.
Der Detailreichtum der Innenaufnahmen und die von den Familien selbst gewählte Aufstellung lässt den Betrachter spekulieren über die soziale Situation, das Leben, das Umfeld der Fotografierten. Erstaunlich ist allerdings, dass der Fotograf sich auf Familien beschränkte, die in der DDR „in einem bescheidenen Wohlstand lebten“, wie es der Herausgeber des Fotobandes, Mathias Bertram, formuliert.
Mehr als 130 Personen hat der Fotograf vor der Wende besucht, ihr Vertrauen bei einer mehrstündigen Fotositzung gewonnen und Bilder geschossen, deren Arrangement und Posen die Fotografierten selbst gewählt haben. Menschen aus allen Landesteilen und Schichten stellen sich hier dar, sie gucken den Betrachter mit wachem Gesichtsausdruck und nicht ohne Stolz auf die demonstrierte Einmütigkeit an.
Eine Auswahl von etwa 40 Familien besuchte Borchert nach der Wende noch einmal. Möglicherweise waren es genau jene, die den Systemwechsel unbeschadet überstanden hatten. Die Aufnahmen zeigen eng beieinanderstehende Familienmitglieder in derselben Vater-Mutter-Kind Konstellation, die sie bereits bei den ersten Aufnahmen gewählt hatten. Niemand posiert. Niemand streicht plötzlich erworbenen Wohlstand heraus. Es scheint, als ruhten die Abgelichteten in sich und seien trotz der wechselnden Zeitläufte fest im Dasein verankert.
Und so lassen die Bilder vermuten, dass nicht das politische System die Menschen prägt. Es ist der innere Friede, die Gewissheit um den Nächsten und die Familien, die dem Einzelnen Stabilität verleiht – so suggerieren die Fotos. Darüber, ob sich ein anderes Bild ergeben hätte, wenn Borchert die übrigen 100 Familien ebenfalls ein zweites Mal besucht hätte, kann nur spekuliert werden. Der zurückhaltende Fotograf hinterließ keine Notizen zu der Fotoserie, als er 2000 bei einem Badeunfall starb.
Es ging ihm nicht um den journalistischen Schnappschuss, sondern um den authentischen Ausdruck, das reine Bild, das seiner Ansicht nach genug über die fotografierte Familienidylle aussagte. Zunächst hatte sich Borchert als Pressefotograf einen Namen gemacht, arbeitete dann aber schon in der DDR freischaffend. Für die zweite Fotoserie erhielt er eine Förderung und erregte einige Aufmerksamkeit mit seinem Zeitdokument. Der Vergleich mit der Fotoserie der deutlich berühmteren Herlinde Koelbl „Das deutsche Wohnzimmer“ liegt nahe. Es zeigt sich, dass sich die Innenansichten in den getrennten deutschen Staaten gar nicht so sehr unterschieden.
Nachdem dem Studium der Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig wollte Borchert „weg von den lachenden Titelblattgesichtern“. Genauigkeit und auch eine Distanz, die er als Objektivität und Würde verstand, sollten seine Bilder bestimmen. Das Konzept, der Gedanke, der den Fotografien zugrunde lag, war Bochert wichtig. Den Wiederaufbau der Semperoper begleitetete er über Jahre hinweg mit einer Fotoserie. Die Familienporträts zeigen die systematische Vorgehensweise Borcherts. Ähnlich wie August Sander oder Bernd und Hilla Becher schuf er Dokumente, die über den Moment hinaus bestehen. Die abgelichtete Oberfläche der erfahrbaren Realität gibt Auskunft über die darunterliegenden Muster und Schichtungen.
Richard Rabensaat
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