Kultur: Inseln des Erinnerns
Der große spanische Schriftsteller Rafael Chirbes kommt nach Potsdam
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Der große spanische Schriftsteller Rafael Chirbes kommt nach Potsdam Von Enno Petermann Als der Diktator und selbsternannte Generalissimus Francisco Franco am 20. November 1975 nach wochenlanger Agonie starb, endete für Spanien eine fast vierzig Jahre dauernde bleierne Zeit. Zwei Tage nach Francos Tod wurde Juan Carlos I. zum König und neuen Staatschef ausgerufen, die transición, der Übergang zur Demokratie konnte beginnen. Spanien suchte den Anschluss an Westeuropa nun auch auf kulturellem und politischem Gebiet, den die Wirtschaft bereits in den sechziger Jahren hergestellt hatte. Die Entwicklung vollzog sich mit beispielloser Geschwindigkeit. 1982 kamen unter Felipe González die Sozialisten an die Macht, Francos einstige Gegner, allerdings nicht ohne dass ihre Partei, die Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens (PSOE), sich von Grund auf gewandelt hätte: Wie andere sozialdemokratische Parteien Europas, aber noch vor ihnen, strebte sie in die vermeintliche Mitte der Gesellschaft und rang um Stimmen bei jenen Schichten, die das Regime bis zum Schluss mitgetragen hatten. Mit dem Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 1986 wurde die Modernisierung des Landes nationales Ziel. Es ist verständlich, dass in einer solchen Phase des Aufbruchs und der kulturellen Öffnung nichts weniger populär war, als sich mit den schmerzhaften Ereignissen der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Ein Autor, der sich diesem Trend verweigerte und gegen den Versuch wandte, „uns plötzlich eine heile und glückliche Welt zu verkaufen, ein im Fortschritt begriffenes Land", so der 1949 in einem Dorf in der Nähe von Valencia geborene Rafael Chirbes. Sein Vater arbeitete bei der Eisenbahn und hatte sich gegen die Faschisten engagiert. Ende der fünfziger Jahre verließ die Familie die Heimatprovinz am Mittelmeer und zog in den Norden. In Madrid studierte Chirbes später Geschichte, dort erlebte er auch das Ende der Diktatur. Seinen Unterhalt verdiente er als Buchhändler oder als Literatur- und Filmkritiker. Chirbes, der heute als einer der wichtigsten Schriftsteller Spaniens gilt, veröffentlichte sein literarisches Debüt relativ spät: erst 1988 erschien der Roman Mimoun (deutsch 1990), der ihn mit einem Schlag bekannt machte. Bis dahin war er vor allem im Auftrag des Gourmetmagazins „Sobremesa" unterwegs und schrieb Reportagen, zeitweise lebte er in Paris und in Marokko. Inzwischen hat der Autor seinen Wohnsitz wieder bei Valencia, auch wenn er als freier Publizist weiter viel reisen muss. Fast glaubt man, dass der schmale Umfang seiner ersten Bücher auf die knappe Zeit zurückzuführen ist, die ihm die journalistische Arbeit ließ. Ein schmales Buch war es auch, das Rafael Chirbes in Spanien zu einer unverzichtbaren neuen Stimme werden ließ: 1992 kam „Die schöne Schrift“ heraus (deutsch 1999). Darin erzählt Ana, eine alte Frau, ihrem abwesenden Sohn von Entbehrungen und Verletzungen eines gezeichneten Lebens, erzählt vom frühen Tod ihres Mannes und der Gefangenschaft ihres Schwagers während der Diktatur. Ihr Bericht ist voller Trauer, aber frei von Larmoyanz. Geschichte wird erfahrbar als individuelles Schicksal. Eindrucksvoll bleibt, wie das geschieht: sein Stil weist Chirbes als großen Schriftsteller aus. Es ist eine äußerst zurückhaltende, im Gestus bescheidene Sprache, die der Autor seiner Figur leiht und die aus Ana eine absolut lebensechte Gestalt macht. Ihre Erzählung wirkt auch deshalb so glaubwürdig, weil sie nicht „literarisch" daherkommt. Als Rafael Chirbes 1999 für „Die schöne Schrift“ und den im Jahr zuvor erschienenen Roman „Der lange Marsch“ (deutsch ebenfalls 1998) den Preis der SWR-Bestenliste erhielt, begründete die Jury ihre Entscheidung u.a. mit der „behutsamen Prosa" des Spaniers. Dieser Poesie der Einfachheit kann man sich als Leser nur schwer entziehen. Der lange Marsch, wo Chirbes die Jahrzehnte der Franco-Ära am Beispiel zweier Familien beschwört, brachte ihm den internationalen Durchbruch. Zwei Jahre später griff er das Thema in „Der Fall von Madrid“ erneut auf: Die Handlung spielt am 19. November 1975, dem Tag vor Francos Tod. Ausgangspunkt ist der fünfundsiebzigste Geburtstag des Möbelfabrikanten José Ricart. Seine Schwiegertochter Olga bereitet das abendliche Fest vor, der Enkel Quini nimmt an einer Studentendemonstration teil und Maximino Arroyo, gefürchteter Geheimdienstler und Ricarts Freund aus Jugendtagen, bangt um seine Zukunft. Dazu gesellen sich ein Universitätsprofessor und eine avantgardistische Malerin, eine Hausangestellte und ihr untergetauchter Freund, ein Mann im Polizeigewahrsam und der Killer, der ihn umbringen wird. Schritt um Schritt entsteht ein Panorama der spanischen Gesellschaft, wie in einem zerbrochenen Spiegel erscheint das Bild einer Welt, deren Grundfesten zu wanken beginnen. Mit diesem Roman, der im Titel auf die Einnahme Madrids durch Franco im März 1939 anspielt und die Bedeutung des Ereignisses ins Gegenteil verkehrt, hat Rafael Chirbes einen vorläufigen Gipfel seines Schaffens erreicht. Die hiesigen Leser werden leider noch etwas warten müssen, bevor sie das neue Werk des Autors in Augenschein nehmen können. In dem Roman „Alte Freunde“, der im Sommer in Spanien erschienen ist, befasst Chirbes sich ausdrücklich mit der eigenen Generation und fragt, was aus den Idealen von einst geworden ist: Eine Gruppe ehemaliger Freunde feiert das Wiedersehen. Doch da sie kein gemeinsames Projekt mehr verbindet, gibt es kaum Dialoge zwischen ihnen. Jeder hat Gelegenheit, seine Geschichte zu erzählen. Ihre Monologe formen ein Mosaik der verlorenen Illusionen. Chirbes denunziert seine Figuren nicht. Auch die verworfenste von ihnen bewahrt einen Rest Menschlichkeit, trägt den Widerspruch zu sich selbst in ihrem Innern. Der Schriftsteller interessiert sich für den einzelnen als Teil eines historischen Zusammenhangs, weder klagt er an, noch richtet er. Seine Bücher wollen nichts anderes sein als „Inseln der Erinnerung" im Kampf gegen das Vergessen. Rafael Chirbes liest auf Einladung des Brandenburgischen Literaturbüros im Rahmen der Woche der Begegnung mit Spanien am 8. November um 19.30 Uhr im Potsdamer Theater, Reithalle A.
Enno Petermann
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