Kultur: Irrfahrten
Homers Sage des Odysseus hatte ganz heutig am Hans Otto Theater Premiere
Stand:
Reisen sind Abenteuer und oft sehr anstrengend. Auch wollen sie gut vorbereitet sein, will man wirklich tiefer in die Fremde eindringen.
Das alles zeigte sich auch bei der „Irrfahrt des Odysseus“, die das Kinder- und Jugendtheater des HOT gestern mit großem logistischen Aufwand zur Premiere brachte. Der Großteil des kleinen Publikums schien in die Materie bestens eingeführt, und das war auch gut so. Denn natürlich ist es nicht einfach, die große Sage des Homer mit den vielen schwierigen Götternamen zu verstehen.
Die Inszenierung von Carlos Manuel setzte vor allem auf das Mitmachen: auf eine Irrfahrt zum Begreifen. Es gab viele Stationen anzusteuern. Das Theater verwandelte sich in die Inseln der Kalypso und Phaiaken, in das Land der Kyklopen und der Kirke, in den Hades oder in das Reich des Sonnengottes Helios.
Der Bühnenbildner Vinzenz Gertler vollbrachte eine wahre Meisterleistung. Die Reithalle A war kaum wiederzuerkennen. Überall standen und hingen bunte Stoffrondells, die das Haus in ein aufregendes Labyrinth von Inseln und Sternen verzauberte und zu einem Klangraum (Musik: Vicky Schmatolla) werden ließ. Auf sehr sinnliche Weise lud er zum Erobern ein. An der Seite von Odysseus, den Peter Wagner vor allem als Spielanführer zu geben hatte, wurde der Zuschauer zum Weggefährten und gekonnt von einer Station zur anderen manövriert. Dabei landete er immer wieder mitten im Heute.
Odysseus mit fetter HipHop-Kette und Tattoo trifft bei seinen Reisen auf so manch’ Bekanntes und auch auf Klischee Besetztes: Da wird er von einem verschleierten Mann mit Kalaschnikow im Anschlag empfangen, der sofort an einen Terroristen denken lässt. Der Menschenfresser Polyphemos treibt wiederum in einem ruinösen Neubauviertel sein Unwesen, und man könnte den Schlaatz in seinen düstersten Ausmalungen vor sich sehen. Im Reich der Toten schlagen einem dicke Nebelschwaden entgegen, die an Gaskammern denken lassen, die man tunlichst nicht betreten möchte. Es ist ein assoziations- und bildreiches Geflecht, das der Regisseur und Textbearbeiter Carlos Manuel dem archaischen und zugleich zeitlosen Stoff abringen konnte. Seinen Odysseus legte er als listenreichen, aber auch naiven Jüngling an, der sich seiner mörderischen Heldentaten in Troja rühmt, und zugleich an fremden Orten um Gastrecht bittet. Wird er freundlich in Empfang genommen oder muss er weiter auf offenem Meer umhertreiben, abgewiesen von der Welt, wie die afrikanischen Flüchtlinge anno 2006? Fragen, die sich ein erwachsener Zuschauer stellen könnte. Doch das Stück ist für Kinder ab sechs Jahren.
Für sie gibt es vor allem viel Action in dieser wandelnden Inszenierung. Doch etwas bleibt dabei weitgehend auf der Strecke. Der Text. Die Geschichte zerfasert bei all’ den Sinnesreisen und -reizen. Nur mit großer Konzentration kann man den Dialogen folgen, auch wenn die Schauspieler versuchen, ihren kurzen Auftritten Gesicht zu geben. Gut, dass einige Satzsequenzen wiederholt werden, um Marksteine zu setzen. Dem mit Laiendarstellern besetzten Chor fehlte oft die Kraft, dem Spiel das nötige Unterfutter zu geben. Die singende und deklamierende Damenriege in Gummistiefeln blieb vor allem skurril, konnte aber nicht wirklich die dominante Rolle einnehmen, die ihm die Regie zudachte.
„Reiseleiter“ Odysseus umschiffte letztlich alle Klippen, entriss sich den Armen verführerischer Damen, brachte Opfer dar (Stofftiere hielten dafür her), lernte es, Ratschläge anzunehmen und sich zu behaupten. Am Ende weist Athene ihm den Weg nach Hause.
Auch die Zuschauer werden durch einen dunklen Tunnel wieder in die Heimat zurück geführt. Wie werden ihre Erinnerungen an diese abenteuerliche Tour sein? Das Stück stellt keineswegs aufgesetzt Fragen nach der Begegnung mit dem Fremden. Es versucht, den Stoff spielerisch zu knacken und dabei unterschwellig zu sensibilisieren. Was die Kinder wirklich mit nach Hause nehmen, können Erwachsene aber nur erahnen.
Durch den hilfreichen „Baedecker“, den die Theaterpädagogen den Schulen für die Vor- und Nachbereitung in die Hände geben, lässt sich jedenfalls noch viel aus den Irrfahrten an Land ziehen. Und dazu gibt die Inszenierung sicher Anstoß.
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: