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Kultur: Ist der Ruf erst ruiniert

Die Ausstellung „Abgebrannt“ erzählt ab morgen über das Leben in der Russischen Kolonie

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Es ist ein Kriminalfall der Geschichte, der noch heute fantasievolle Blüten treibt. Wegen „Unzucht mit Mannspersonen“ wurde Iwan Schischkoff im Jahre 1856 zu neun Monaten Zuchthaus verurteilt. In Frauenkleidern lockte der 23-Jährige die beiden Unteroffiziere Brinkmann und Dettmann in seine Arme. Er winkte und pfiff aus dem Sergeeffschen Haus in der Russenkolonie den Blauröcken zu und tatsächlich zahlte ihm einer der beiden zehn Silbergroschen. „Er vollzog den Geschlechtsakt in der Meinung, er hat es mit einer Frau zu tun“, ist später zu lesen. Der „Gelinkte“ war indes so dumm, den Fall anzuzeigen und schoss sich damit ein Eigentor. Der Respekt der Soldaten war dahin, das Gespött des Regiments ihm sicher.

Ein sehr spezieller Fall aus dem Leben der Russischen Kolonie, der bei näherem Hinsehen aber durchaus mehr zu erzählen weiß. Das spürte Thomas Sander, als er sich durch die Aktenberge der Kolonie las. „Bislang interessierten immer nur die Architektur und und die Namen der Bewohner. Aber wie das eigentliche Leben hinter den Holzwänden aussah, blieb im Dunkeln“, so der Museumsmitarbeiter. In einer morgen um 17 Uhr beginnenden Ausstellung spürt er nun gemeinsam mit dem Grafiker Tim Esser nach, was hinter dem Fall Iwan steckt und erzählt im feuilletonistischen Stil zugleich über Kinderarbeit, Moral und Bürokratie, die fatale Auswirkungen auf die „kleinen Leute“ hatte.

„Abgebrannt“ nennen die Ausstellungsmacher ihr Drama in zwölf Szenen, das die obere Etage des Museums füllt. Computergenerierte Abbildungen, die sich bis ins Kleinste auf das damalige Interieur beziehen, beschwören raumgreifend die einstige Atmosphäre. Genau recherchierte Fakten bilden das Gerüst, das Thomas Sander erzählerisch mit fiktivem „Fleisch“ umhüllt. Er beschreibt Iwan als ein schmächtiges Kind, von eher anhänglicher und ruhiger Natur. Seine Mutter Wilhelmine schickte ihn mit sechs Jahren auf die hiesige Garnisonschule. Doch schwänzte er wie seine ältere Schwester oft den Unterricht. Wilhelmine hatte keine Zeit, sich um ihre fünf Kinder zu kümmern. Die Witwe war völlig überfordert, mühte sich in Haus und Garten und betrieb zudem Wollhandel. Oft fuhr sie über die Dörfer, um Selbstgestricktes zu verkaufen. Doch brachte das nur wenig ein. Der inzwischen eingeführte preiswertere Maschinenstrick war begehrter.

Sie bekam zwar Witwen- und Kindergeld, doch das reichte hinten und vorne nicht. Mieden ihre Kinder die Schule, meldete der Rektor das sofort dem Aufseher der Kolonie und der drohte, das Erziehungsgeld zu streichen. Wohlverhalten war angesagt. Oft ließ Wilhelmine ihre Wut über das erbärmliche Leben an die Kinder aus, vor allem an ihrem „Fehltritt“ Karl. Den bekam sie Mitte 30. Doch wieder heiraten kam nicht in Frage, die Hausstelle wäre sonst dahin.

Im zwölften Lebensjahr schickte sie Iwan ihn die Zigarrenfabrik des Herrn Bertko. Dort konnte er wenigstens keine dummen Streiche machen. Obendrein half er das kärgliche Familieneinkommen aufbessern. Da er noch keine 16 war, musste er „lediglich“ zehn Stunden am Tag arbeiten. Am „freien“ Sonntag gings dann in die Sonntagsschule. Den Vater lernte Iwan nicht mehr kennen. Seine Mutter war gerade mit ihm schwanger, als er 1833 starb. Offiziell an Schwindsucht, aber er ging wohl eher an der Trunksucht zugrunde, der nicht nur er in dieser Siedlung erlegen war. Lieber hätte Wassili an der Front gestanden, als dieses Leben weiter mitzumachen, welches doch kein würdiges für einen ehrlichen Soldaten sei, wie er seiner Frau reumütig beteuerte, nachdem er sie wie so oft geschlagen hatte. Wassili gehörte zum russischen Sängerchor, von dem 1826 nur noch 12 Mitglieder übrig geblieben waren. Der Schmelz der Stimmen war längst vergangen. Der König interessierte sich nicht mehr für den Chor, nachdem Zar Alexander, sein Freund, gestorben war. Aus dem lebenden Denkmal der preußisch-russischen Freundschaft, die der Melancholiker auf dem Thron einst beschwor, blieb nur die pittoresk-exotische Attitüde. Nach dem Tod Wassilis durfte seine Witwe zwar noch in der Alexandrowka wohnen bleiben, aber nur weil sie männlichen Nachwuchs hatte. Als ihr Ältester 24 Jahre wurde, musste sie das Feld räumen. Für zwei „Bestimmer“ war der Platz zu eng. Sie bezog ein winziges Zimmer in der Waisenstraße. Iwan nahm sich ein Zimmer zur Untermiete in der Nachbarschaft, mit der Hoffnung, wenn auch er 24 ist, ebenfalls eine vom König versprochene eigene Wohnstelle beziehen zu dürfen. Doch darüber entschied das 1. Garderegiment zu Fuß, das die Kolonie verwaltete. Nach Johanns „Fehltritt“ wohl undenkbar.

„Es ist völlig unklar, ob Johann schwul war oder Transvestit. Vielleicht ging er auch nur anschaffen, so wie seine Schwester Auguste“, sagt Thomas Sander. Es sei zu vermuten, dass sich Johann an dem nahegelegen lichtlosen und schmutzigen Platz an der Alexandrowka – dort, wo sich heute die Polizeiwache Nord befindet – seine „Freier“ suchte. Er war zwar inzwischen Schneidergeselle, aber dabei recht erfolglos. Nicht genug, dass er aufgrund der gleichgeschlechtlichen Beziehung, die damals gleichgesetzt wurde mit Sodomie, also Sex mit Tieren, gegen das „gesunde Volksempfinden“ verstieß und eingekerkert wurde. Auch seine Mutter musste kurz darauf vor Gericht. Am 26. September 1856 brannte das Haus Nr. 7 nieder. Es war der erste Tag, nachdem sie von der Waisenstraße wieder zurück gekehrt war: zur Untermiete bei der Witwe Grigoriew. Doch Wilhelmine ließ wohl eine Kerze unbeaufsichtigt. Ihr ganzes Hab und Gut und auch das von dem eingekerkerten Iwan ging mit in Flammen auf.

Der Titel der Ausstellung „Abgebrannt“ bezieht sich also nicht nur auf das finanzielle Desaster der Familie, sondern auch auf den tatsächlichen Brand. Wilhelmine wurde zwar freigesprochen, aber hinter ihrem Rücken wurde die Familie aktenkundig zur „Unperson“ erklärt. Johann schrieb aus dem Zuchthaus flehentlich einen Brief: „ Aus der Finsterniß des Elends, und mit jeden neuen Aufgang der Tagessonne, wage ich von lang getrübten Blick, zum glorreichen Strahlenglanze Euer Königlichen Majestät demutsvoll, fußfällig, händeringens, meine Hände zu erheben...“ Mit „niedergebeugtem Haupt“ bat er gehorsamst, ihm das Königliche Grundstück für immer zu lassen. Dort wollte er mit seiner Mutter wieder zusammen leben. Doch so wie Wilhelmine mit ihrer Bitte um Brennholz gegen Mauern lief, fand auch Iwan kein Gehör. Für „Unpersonen“ hatte niemand Verständnis.

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