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Interview mit Niklas Ritter: „Jeder kann bestialische Dinge tun“

Dürrenmatts "Der Besuch der alten Dame" feiert am Freitag Premiere am Hans Otto Theater. Im PNN-Interview spricht Regisseur Niklas Ritter vorab über die Auswüchse des Kapitalismus.

Stand:

Herr Ritter, wie sehr hassen Sie den Kapitalismus?

Hassen ist der falsche Ausdruck, aber er hat schon seine Tücken. Besonders jenseits unserer deutschen oder europäischen Grenzen. Und je weiter man sich von unseren Grenzen entfernt, desto größer ist der Abgrund. Da sind die Auswüchse des Kapitalismus mehr als spürbar, der uns sehr viel Wohlstand und Gemütlichkeit beschert - und anderen sehr viel Not.

Was man gerade jetzt – zum ersten Mal seit langem – in diesem globalen Ausmaß doch auch hier ein bisschen mitbekommt.

So hautnah, ja, weil die Not nun zu uns kommt.

Vor dem „Besuch der alten Dame“, den Sie jetzt inszenieren, haben Sie sich ja auch schon bei „Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss“ und „Enron“ am HOT mit der Frage nach der Wechselwirkung von Glück und Kapital beschäftigt. Was reizt Sie an dem Thema?

Diese Widersprüchlichkeit, die wir ja gerade derzeit wirklich deutlich und nah erleben. Und wenn ich nach Stoffen suche, merke ich eben: Das ist es, was die Welt momentan sehr bestimmt. Das Thema ist einfach aktuell.

Der Wettkampf ist unausweichlich

Nachdem Sie sich so intensiv damit beschäftigt haben – würden Sie sagen, der Kapitalismus hat auch seine guten Seiten?

Man kann ja nun Kapitalismus nicht unbedingt mit Demokratie gleichsetzen. Insofern würde ich schon sagen: Es überwiegen tatsächlich die Nachteile.

Trotzdem scheint dieser Denk-Mechanismus – mehr Wohlstand gleich mehr Glück – nicht so leicht zu durchbrechen sein.

Naja, der Kapitalismus ist eben auch eine Gesellschaftsform, die vielleicht unserem Naturell entgegenkommt. Wir haben ja durchaus dieses Wettbewerbs-Gen in uns, davon kann ich mich auch nicht frei machen. Das ist ja auch das Dilemma des Systems – dadurch, dass jeder sich in ständigem Wettbewerb befindet, kann man sich auch nicht auf einer Insel ausruhen. Denn die gibt es nicht. Klar gibt es diesen Trieb in uns, immer mehr zu wollen. Aber das System bringt eben auch mit sich, dass damit eine ständige Angst zu versagen einhergeht. Die ständige Angst vor dem Abgrund. Der Abgrund ist auch in unserem Wohlstandsquadrat spürbar, wenn auch natürlich anders als in Syrien.

Schuld lässt sich leicht verdrägen

Weil es immer auch um die persönliche Perspektive geht, was in „Besuch der alten Dame“ deutlich wird: Obwohl die Hauptfigur, Claire Zachanassian, längst nicht mehr als Hure gilt, Milliardärin ist, kommt sie nicht über ihre persönliche Verletzung – ihre Jugendliebe Alfred Ill hat sie geschwängert und verraten – hinweg. Sie will Rache: Sie verspricht ihrem Heimatort eine Menge Geld, wenn man ihr Ill tot ausliefert. Diese Rachelust hat etwas anti-postmodernes, das scheint gar nicht in unsere Gesellschaft heute zu passen, in der Ehre eigentlich keine Kategorie mehr ist.

Ja, das ist aber eben das Thema des Stücks: Dass hier jemand in eine zivilisierte Gesellschaft kommt, die mit dem Gedanken der Rache nichts anfangen kann. Ich denke, jeder Mensch ist fähig, ab einem gewissen Grad an Mittellosigkeit oder Isolation bestialische Dinge zu tun. Es geht in dem Stück sehr stark um Verdrängung von Schuld. Die Bewohner Güllens glauben bis zum Schluss nicht, dass sie Alfred Ill wirklich töten werden. Das hat in dem Sinne schon starke Parallelen zu unserem Leben, weil wir oft auch nicht darüber nachdenken, was wir mit unserem Konsum anrichten – und wir können es eben auch sehr gut verdrängen. So ist es auch im Stück. Jeder in Güllen weiß, er selbst wird es nicht tun – und wäscht seine Hände in Unschuld. Das ist das Schöne bei Dürrenmatt: Der Mord bleibt im Dunklen, es gibt am Ende keinen Henker, irgendwie waren sie es alle - aber zugleich auch niemand.

Da sind wir wieder beim Kapitalismus: Wer ist am Ende Schuld daran, wenn Kinder in Sweatshops sterben, damit wir billigen T-Shirts tragen können?

Absolut; wir tragen die Leute, die wir am Ende als gewissenlose Täter hinstellen, mit.

Wie stabil ist der Boden der Werte?

Wie passt diese Parabel eigentlich nach Potsdam – eine Stadt, die, anders als Güllen in dem Stück, floriert, die reich ist, sogar Mäzene hat, die der Stadt ohne verlangte Gegenleistung Gutes tun.

Der Ausgangspunkt ist ja, dass Güllen ein Ort innerhalb einer florierenden Gesellschaft ist. Claire Zachanassian hat den Ort gezielt ruiniert, hat dafür gesorgt, dass Not und Armut groß genug sind, damit die Menschen dort zu solchen Dingen – eben den Mord an Alfred Ill, den sie fordert – fähig sind. Es geht also um diese was-wäre-wenn-Frage: Wozu sind auch wir in unserem Reichtum fähig, wie stabil sind unsere Werte, wie relativ sind sie. Ich bin immer auf der Suche nach den inneren Abgründen der Figuren. Wozu bin ich fähig, und was muss passieren, damit ich dazu fähig bin. Darum, wie man aus humanistischen Gründen, aber eben auch unter kapitalistischem Einfluss zu einer Bestie werden kann. Und es geht hier ja stark um den Gegensatz zwischen Gruppe und Individuum, und um die Werte, die wir uns scheinbar über Jahrhunderte angeeignet haben und die wir plötzlich – und sogar im Namen der Gerechtigkeit – über den Haufen werfen.

Die Schauspieler werden im Stück – Dank aufwendiger Maske – mit zunehmendem Reichtum jünger aussehen. Warum?

Was für mich an dem Stück elementar ist, ist, dass es eine Kollektivschuld gibt. Claire Zachanassian übt nicht nur Rache an einem Mann, sondern an einer ganzen Gesellschaft, weil alle in dieser Stadt sich an ihrem Verstoß beteiligt haben. Und mir war klar, wenn die damit nichts zu tun hätten, wäre das Stück für mich entschärft. Es muss darum gehen, dass sich die Gemeinschaft gegenseitig zerfleischt. Also müssen es Menschen in ihrem Alter sein, solche, die sie von früher kennt. Und ein zweiter Gedanke war, den wachsenden Reichtum anders zu zeigen als über schöne Kleider. Ausschlaggebend war aber für mich das Bild, dass die Schuld einen einholt – und dass am Ende alle aussehen wie zum Zeitpunkt des ursprünglichen Verbrechens, als die Stadt Claire vertrieben hat. Somit sind Rita Feldmeier und Peter Pagel – die Claire Zachanassian und Alfred Ill spielen – zu Beginn des Abends die Jüngsten, am Ende die Ältesten.

Auch die Eliten sind fragil

Es tun sich ja verschiedene Abgründe auf im Stück. Bei welchem schaudert es Sie am meisten?

Es gibt diese Figur des Lehrers, den bei uns Florian Schmidtke spielt, und der sich am längsten dagegen wehrt, bei diesem wahnsinnigen Deal mitzumachen. Der steht für die geistige Elite, den Humanismus – und hält am Ende die Rede auf die Ermordung. Am Ende, sagt mir das, sind wir vielleicht alle nur Tiere, am Ende wirft vielleicht jeder seine Ideale über Bord. Das ist erschreckend.

Und das, ohne dass wirklich existentielle Not herrscht.

Ja, Alfred ist der einzige, der am Ende – obwohl er umgebracht wird – irgendwie als moralischer Gewinner oder Erlöser hervorgeht. Er opfert sich. Es gibt diesen von „Antigone“ umgedeuteten Schluss-Chor, bei dem es im Original heißt: „Nichts ist ungeheurer als der Mensch“. Bei Dürrenmatt wird daraus: „Nichts ist ungeheurer als die Armut“. Das ist eine interessante Umdichtung. Denn ab einem gewissen Grad der Armut kann man nicht mehr human sein. Das ist ein Luxus des Reichtums, ein gewisses Wertesystem aufrecht zu erhalten.

Das Gespräch führte Ariane Lemme

ZUR PERSON: Niklas Ritter, 1972, in Berlin geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, bevor er nach Inszenierungen am Deutschen- und am Maxim Gorki-Theater in Berlin ans HOT kam.

„Der Besuch der alten Dame“ hat am morgigen Freitag um 19.30 Uhr im Hans Otto Theater, Schiffbauergasse, Premiere.

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