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Kultur: Jedes Lied ein zeitloser Raum

Tuvinische Gesänge und Schwizer Heimatklänge begeisterten im Nikolaisaal

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Auf der Bühne des Nikolaisaals sieht es aus wie auf einer musikethnologischen Ausgrabungsstätte: Phantasievoll gebaute Saiteninstrumente, deren Hälse mit kunstvoll geschnitzten Pferdeköpfen verziert sind, eine mit Ziegenfell bespannte schamanische Trommel und weitere traditionelle Klangkörper warten darauf, ihre geheimnisvolle Seele preiszugeben.

Vier Männer in landestypischen Gewändern betreten die Bühne: „Huun- Huur- Tu“ aus Tuva, einer entlegenen Region im Süden Russlands an der nordwestlichen Grenze der Mongolei. Lediglich zwei größere Straßenverbindungen führen in die autonome Republik Tuva. Die Gesangskünstler von Huun-Huur- Tu haben es am Samstag trotzdem pünktlich nach Potsdam geschafft.

Dann löst sich der erste Ton, schwingt, baut sich auf, vermehrt und verdichtet sich gleichzeitig zu mehreren Tönen, einer wahren Tonwand, deren Klang und Atmosphäre aus einer anderen Zeit zu kommen scheint. „Khoomei“ nennt sich diese faszinierende Gesangstechnik, bei der ein einzelner Sänger zwei oder sogar drei Töne nebeneinander erzeugt, indem er die natürlich mitschwingenden Obertöne so verstärkt, dass sie gleichzeitig klingen. Dabei wirken die Musiker äußerlich fast als wären sie nur „Empfänger“ dieser Schwingungen. Ohne jegliche Mimik oder merkliche Emotionen pressen sie die bizarren Frequenzen aus ihren Mündern.

Die traditionellen Instrumente spinnen derweil ihre Geschichten: Lieder über die Schönheit der heimatlichen Natur, über die Liebe und Pferde. Wenn Huun- Huur-Tu so spielen, scheinen sich Zeit und Raum aufzulösen. Man kann nicht anders, als in diese üppige Klangwelt zu fallen, die Aura des Geheimnisvollen einzuatmen und den Moment wahrzunehmen. Egal, was gestern war oder morgen passieren wird– hier entsteht mit jedem neuen Lied ein zeitloser Raum, der immer ist und nie war. Doch was stört da unsere kollektive Meditation?

Ein „Schwyzer Horn“ durchdringt die sibirische Traumwelt. Balthasar Streiff, Alphornaktivist und die eine Hälfte des Schweizer Duos „Stimmhorn“ antwortet vom Rang des Nikolaisaals auf das tuvinische „Ur- Om“. Ganz zart und zerbrechlich wirkt sein kleines Horn gegen das geballte Volumen der Steppenmusiker. Noch dazu muss Streiff an diesen Abend ohne seinen musikalischen Kompagnon Christian Zehnder auskommen, den ein plötzlicher Migräneanfall dahinstreckte. Doch mit dem Selbstvertrauen eines Frischverliebten arbeitet sich Streiff Horn für Horn durch seine Instrumentenkollektion. Kein Horn was er nicht kennt oder erforscht hätte.

Der mystisch-verschwommene Klang der großen Alphörner ist dem Obertongesang seiner asiatischen Seelenverwandten dabei gar nicht unähnlich und so harmonieren die Schweizer Heimatklänge prächtig mit den tuvinischen Gesängen. Mit dem Aufeinandertreffen der beiden Ensembles ist in der Tat ein bewegendes Projekt entstanden: Ein imaginärer Ritt durch die Natur Tuvas und die erhabenen Schweizer Alpen, herausgeschält aus Zeit und Identität, aufgelöst in der Musik. Das Publikum dankt dafür mit Begeisterungsstürmen. Philipp Kühl

Philipp Kühl

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