BREITE PALETTE DES ZEITGENÖSSISCHEN TANZES: „Kannst du Erinnerung darstellen“
Mal Pelo versuchten es: „Testimoni de llops“ im Rahmen der Potsdamer Tanztage
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Es gab eine Zeit, da war Tanztheater einfach. Eine Abfolge von rhythmischen Schritten und Sprüngen, an deren Ende zum Beispiel die Geschichte von Cinderella stand. Tanz war das Theater des Körpers, Sprache tabu. Diese Zeiten der schlichten Kategorien sind längst vorbei. Aus einfachen Geschichten sind Diskurse geworden und tabu sind eigentlich nur Tabus selbst.
„Testimoni de llops“ (Zeugnis der Wölfe) von der spanischen Gruppe Mal Pelo ist beileibe nicht die erste Aufführung der Tanztage, die sich gestrige Konvention piepegal sein lässt. Aber sie rüttelt am bislang konsequentesten an der Ursprungsidee von Tanztheater: dass hier Bewegungen für Worte einstehen sollen.
In „Testimoni de llops“ wird geredet, was das Zeug hält. Spanisch, Englisch, ins Mikro, direkt ins Publikum, oder auf einer Leinwand im Bühnenhintergrund – die Sprache spielt eine Hauptrolle. Zufall ist das nicht: Der Abend ist in Zusammenarbeit mit dem englischen Schriftsteller John Berger entstanden, einem also, für den die Sprache das Werkzeug ist. Auslöser für die Probenarbeit war ein Treffen zwischen Berger und der Tänzerin María Munos, die Mal Pelo 1989 zusammen mit Pep Ramis gründete. Im Januar 2006 schrieb Berger der Tänzerin: „Kannst du diese Erinnerung darstellen in Übereinstimmung dazu, welcher jemand dich erinnert?“ „Testimoni de llops“ versucht eine Antwort auf diese Frage. Entstanden ist der Abend unter intensivem Austausch mit dem Schriftsteller, als „Dialog mit einem Abwesenden“.
Die Texte im Stück zeugen davon. Immer wieder ergreifen die Tänzer das Wort, erzählen auf spanisch oder englisch Geschichten, die entweder von Berger sind, oder durch die Compagnie entstanden. Wenn man die fremden Sprachen versteht, oder das Glück hat, im Besitz von Textauszügen zu sein, wird man Themen erkennen, die sich durch viele der Passagen ziehen: Um Wölfe geht es da, und um Erinnerung. An Krieg, an Väter und Tradition, aber auch an vor-menschlich Animalisches, einen Ur-Instinkt, den der Mensch mit zunehmender Rationalisierung verlernt hat – oder eben vergessen. Wer aber weder die eine noch die andere Sprache versteht ist schlechter dran an diesem Abend. Zumindest eine Dimension des Stückes, nämlich der Umgang mit geschichtlicher Vergangenheit, Heimat und die konkreten Bezüge zu Kriegszeiten, gehen damit völlig verloren. Hier zeigt sich der Ehrgeiz in dem, was Mal Pelo versuchen, aber auch die Schwierigkeit. „Testimoni de llops“ will eine Annäherung an so viele konkrete Themen gleichzeitig sein – Vaterland, Territorium, Körper, Tod, Grenzerfahrungen – dass sie sich über Bewegung kaum darstellen lassen. Ein Gefühl, eine Problematik, lässt sich tanzen, eine Anekdote hingegen nur schwer. Und die Idee, dass zwischen Wort und Bewegung ein spannender Dialog entsteht, wobei beide Seiten einander ergänzen, funktioniert nur, wenn die Sprache mehr für den Zuschauer ist als nur Lautmalerei.
Dennoch funktioniert „Testimoni de llops“ – es ergreift, berührt, gerade im Unverständnis. Für das Hauptthema, Abwesenheit, finden die Choreographen María Munoz und Pep Ramis immer wieder wunderbare Bilder. Ganz zu Beginn zum Beispiel haschen zwei Tänzer einander. Sie umkreisen und umschlingen sich, ohne sich zu greifen, immer leidenschaftlicher im Versuch, den anderen zu fassen. Erfolglos. Nähe, ohne sich wirklich nahe zu sein: Schöner kann man Sehnsucht nach etwas Abwesenden kaum zeigen. Ein anderes Motiv ist der Wald. Auf einer großen Videoleinwand im Bühnenhintergrund bestimmt er immer wieder das Geschehen, vielleicht eine Erinnerung an ein fast vergessenes Paradies. Auf der Bühne versucht dabei eine Tänzerin, aus Holzbalken eine Skulptur zusammenzubauen. Auch das vergeblich, immer wieder fällt das Konstrukt in sich zusammen: Der schöne Wald aus dem Video lässt sich nicht nachstellen. Als kleine Topfpflanze bleibt die Natur durch das ganze Stück hinweg auf der Bühne präsent. Eine nackte Tänzerin verteidigt sie, als sei sie ihr Junges.
Ob das die Wölfin ist, das Instinkthafte, das Mal Pelo und Berger suchten, bleibt dem Zuschauer überlassen. Die Zeiten der klaren Antworten im Tanztheater sind vorbei. Zum Glück.
Fast 5000 Besucher sind zu den 17.
Potsdamer Tanztagen gekommen. Rund 160 Künstler aus 11 Ländern präsentierten in 15 Aufführungen eine breite Palette des zeitgenössischen Tanzes, wie Sprecher Laurent Dubost am Sonntag sagte. „Wir sind überaus zufrieden mit der Resonanz, ein Drittel der Aufführungen war ausverkauft“. Im Vorjahr hatte das Festival 2600 Gäste angelockt. In diesem Jahr konnten die Zuschauer seit dem 16. Mai
afrikanische Choreografien, Hiphop-Tänze, multimediale Performance oder auch Tanztheater erleben.
Die Künstler kamen unter anderem aus Kamerun, Kanada und Indien. Das Festival ging am Sonntagabend zu Ende. Neben den Tanzdarbietungen gab es 17 Workshops. Diese befassten sich mit der „Anatomie der Bewegung“, mit indischem Tanz oder auch mit der Frage, wie Tanz zeichnerisch darstellbar ist. Zum Rahmenprogramm gehörten auch ein Familienfest und Angebote für Kinder- und Jugendliche.
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