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Kultur: Kastagnetten und prasselnde Erbsen Die Welte-Kinoorgel im Filmmuseum wird 80

„Ältere Dame“ und „Dinosaurier“ nennt Helmut Schulte die Welte-Kinoorgel, auf der er regelmäßig im Filmmuseum Stummfilme begleitet. Die „Dame“ wurde vor 80 Jahren in Freiburg im Breisgau geboren.

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„Ältere Dame“ und „Dinosaurier“ nennt Helmut Schulte die Welte-Kinoorgel, auf der er regelmäßig im Filmmuseum Stummfilme begleitet. Die „Dame“ wurde vor 80 Jahren in Freiburg im Breisgau geboren. Ihre gewaltigen Ausmaße, eben die eines Dinosauriers, bleiben dem Kinobesucher, der zur Stummfilm-Vorführung den Kinosaal im Filmmuseum betritt, normalerweise verborgen. Er sieht am rechten Bühnenrand lediglich den Spieltisch, etwas größer als ein Klavier, ausgestattet mit zwei Manualen, unzähligen Knöpfen, etlichen Pedalen und einer hölzernen Sitzbank. Wenn Helmut Schulte auf der Bank Platz genommen hat, wird es dunkel im Saal, der Vorhang öffnet sich und die bewegten Bilder erscheinen. Der Musiker folgt ihnen nicht nur mit den Augen, sondern auch mit seinen Händen, die über die Tasten, und mit seinen Füßen, die über die Pedale wandern.

Die Klänge entstehen hinter der Kinoleinwand in der schalldichten Tonkammer mit Dinosaurierdimension – 40 Telefonzellen würden darin Platz finden. Hier befinden sich Trommeln, Becken, Gongs, Kastagnetten, 872 Orgelpfeifen und einige originelle Apparaturen, die teilweise durch ein Sichtfenster hinter der Leinwand zu beobachten sind. Die Tonkammer ist durch Hunderte von Kabeln mit dem Spieltisch verbunden. Das Drücken einer Taste setzt mittels einer elektro-pneumatischen Traktur ein bestimmtes Instrument in Gang. Erzeugt werden nicht nur kirchenorgelähnliche Klänge, sondern auch mehr als zwanzig Kinoeffekte wie Telefonklingeln, Autohupen, Donnern oder Vogelgezwitscher. Das Regengeräusch entsteht in einem geschlossenen Metalltrichter, in dem trockenen Erbsen hoch geblasen werden und immer wieder an die Metallwände prasseln. Eine Dampflokomotive hört man fahren, wenn ein Blech, das sich in einer Pappröhre befindet, durch impulsartige Windstöße hin und her bewegt wird. Über ein Pedal kann der Orgelspieler die Öffnungen für den Schallaustritt und damit die Lautstärke der Klänge regulieren. Ein 30 Mann starkes Orchester vermag dieses Orgelmodell laut Welte-Katalog zu ersetzen.

Als der Betreiber des Lichtspielhauses im Chemnitzer Luxor-Palast 1929 etwa 55 000 Reichsmark für eine Kino-Orgel investierte, war dieses Instrument der letzte Schrei. Bis zur Beschädigung durch ein Hochwasser 1954 war sie dort in Betrieb. Die Reparatur war schwierig, die meisten Ersatzteile mussten aus der BRD beschafft werden – zu DDR-Zeiten eine heikle Angelegenheit. Immerhin war die Orgel nach einigen Jahren wieder spielbereit und wurde noch bis Ende der 60er Jahre genutzt. Doch 1979 baute man sie aus, übergab sie dem Filmmuseum Potsdam und lagerte sie aus Platzgründen in einem Kuhstall. Dort war das Instrument viele Jahre der Feuchtigkeit und dem Ungeziefer ausgesetzt.

Als die Dresdner Orgelbaufirma Jehmlich 1993 mit der Restaurierung beauftragt wurde, fand Werksmeister Matthias Lang die Orgel in einem „trostlosen Zustand“ vor: Sechs Mitarbeiter machten die alte Dame wieder konzertfähig. Dabei orientierten sie sich an vergleichbaren Instrumenten in Düsseldorf und Mannheim, sie fahndeten weltweit nach Herstellern altmodischer Teile, untersuchten Schraublöcher, experimentierten, fertigten neu, reparierten, montierten und stimmten die Orgelpfeifen. Am 21. Oktober 1993 konnte die Kinoorgel zu dem Murnau-Stummfilm „Der letzte Mann“ (1924) von dem englischen Musiker William Davies eingeweiht werden. Seitdem ist sie regelmäßig in der Reihe „Stummfilm mit Live-Musik“ zu hören. Als eine der insgesamt vier Welte-Kinoorgeln, die in Deutschland noch spielbereit sind, steht sie unter Denkmalschutz. Sie sei noch sehr rüstig und hat kaum Zipperlein, lobt Helmut Schulte die 80-jährige Dame.

Heute wird auf ihr Stephan von Bothmers spielen, der bekannt ist für seinen improvisatorischen Wagemut. Er begleitet den Stummfilmkrimi „Nachtgestalten“ von Steinhoff aus dem Jahre 1929 und morgen Murnaus „Faust – eine deutsche Volkssage“ von 1926. Imke Griebsch

Imke Griebsch

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