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Kultur: Kein Ende in Sicht

Lesung im Literaturladen Wist zu Peter Weiss

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Ein Potsdamer Wochenblatt, so leitete der Germanist Hans-Christian Stillmark die Lesung im Literaturladen Wist ein, habe erst kürzlich den berühmtesten Babelsberger gekürt. An der Spitze stände, allerdings mit einem zweifelnden „vielleicht“, der vor 90 Jahren im damaligen Nowawes geborene Peter Weiss – noch vor dem Fußballer Moppel Schröder und Matthias Platzeck. Ein „vielleicht“ kennzeichnet heute auch die Haltung vieler potentieller Leser, die vor dem 1000-Seiten-Werk „Die Ästhetik des Widerstands“ stehen, das trotz allem einen festen Platz im Kanon der Nachkriegsliteratur gefunden hat. Die Veranstaltungen rund um den 90. Geburtstag des berühmten Stadtsohnes, eine Lesung, ein Symposium und ein Tag im Filmmuseum, getragen vom Kulturbund, dem Germanistischen Institut der Universität, dem Filmmuseum und dem Literaturladen Wist, geben sich „vielleicht“ ein wenig zu bescheiden angesichts des herausragenden Rangs des Jubilars.

Im Lesezimmer über dem Buchladen trafen sich viel zu wenige, die sich von der Schauspielerin Marie Luise Lukas und Carsten Wist in Weiss’ gar nicht so schwer zu erschließendes Werk einführen lassen wollten. Die vorgetragenen Fragmente machten auch ohne biografische Einführung Leben und Denken des 1982 in Stockholm Gestorbenen erfahrbar. Der Abschnitt aus „Gegen die Gesetze der Normalität“ erzählte, wie der Sohn eines jüdisch-stämmigen Textilhändlers schon in frühen Jahren von der Literatur besessen war. „Ich las intuitiv,“ so Weiss über seinen Lesehunger nach möglichst „verbotenen Büchern“, „nicht wissenschaftlich.“ Ein Schlüsselerlebnis seines Lebens war die frühe Bekanntschaft mit Hermann Hesse, Schriftsteller und zugleich Maler auch er. Texte wie „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ scheinen von Hesses selbstbeobachtendem Stil direkt beeinflusst. Da streut sich der Erzähler Salz in die Augen, damit die Tränen den Raum verschwimmen lassen und wortreiche Bilder entstehen.

Peter Weiss ist ein politischer Autor. Er gilt als der letzte Konsens, zu dem die Linke finden konnte. Hört man die Tagebuchaufzeichnungen, Notizen, besonders aber die Passage aus „Ästhetik des Widerstands“, in der das Gemälde „Floß der Medusa“ von Théodore Géricault beschrieben wird, erscheint die politische Handlungsebene immer abgeleitet aus Werken der Kunst. Das Bild im Louvre, auf dem eine Gruppe von Schiffbrüchigen in Verzweiflung einem nahenden Segelschiff zuwinkt, gemalt unter dem Eindruck der französischen Revolution, beschreibt der Erzähler in beeindruckender Einfühlsamkeit. Doch ihm entgeht auch nicht das Schicksal der abgebildeten Franzosen, das er bis in die historischen Fakten hinein weiter verfolgt. Für Weiss ist Politik und Kultur untrennbar. Sein Ausgangspunkt ist jedoch immer das Gemälde oder das Theaterstück, das aus der kulturellen Sphäre politisch wirken soll. Wie auf der Generalprobe zu seinem Stück über Trotzki zur Zeit der Studentenunruhen, die am Schauspielhaus in Düsseldorf gestört wurde. „Warum brachen wir nicht ab?“, sinniert er. Seine Antwort: Es ging um das Leben des Theaters, und ob Stücke noch geschrieben werden können.

Erinnerung als Kultur, Kultur als Erinnerung. In „Meine Ortschaft“ seziert Weiss in der Topografie seines Lebens den Ort, der gegenüber seinen Lebensstationen in Nowawes, Bremen, Berlin, London, Prag, Zürich, Paris und Stockholm „gänzlich für sich blieb“ – das KZ in Auschwitz. Er konnte durch Emigration der Deportation entgehen. Bald nach der atmosphärischen Beschreibung der Gebäude ist Weiss voller Empathie bei der Rekonstruktion des Leids der Lagerinsassen. Seine Bestandsaufnahme: „Nichts ist geblieben als die totale Sinnlosigkeit ihres Todes.“ An diesem Ort, den Weiss 20 Jahre nach dem Krieg besuchte, hat er das teuflische Gegenbild aller seiner Ideale gesehen. Politik der Vernichtung und eine vernichtete Kultur. Sein Schlusssatz kennt kein Vielleicht: „es ist noch nicht zuende.“

Matthias Hassenpflug

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