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Kultur: Kein Vasall

Historikerin aus den USA wertet den Mauerbau neu

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Als Hope M. Harrison 1989 von Frankfurt nach Berlin fliegt und an die Berliner Mauer denkt, erscheint ihr diese monströs, absurd: ein trauriges Beispiel menschlicher Unvernunft. Es ist der 9. November. Plötzlich die Stimme des Bordlautsprechers: „Meine Damen und Herren, wir fliegen gerade in die Geschichte!“.

Am Donnerstag hat die Historikerin ihr Buch „Ulbrichts Mauer“ in der Gedenkstätte Lindenstraße vorgestellt. Das ehemalige Stasi-Gefängnis dokumentiert heute eindrucksvoll die Perversion einer Idee, die mit besten Absichten nach dem Zweiten Weltkrieg in Staatsform gegossen werden sollte. Den historischen Schnittpunkt, an dem die Utopie zerbrach, um in ein totalitäres Regime zu münden, beleuchtet die Professorin der George Washington University. Hierbei gelangt sie zu einer neuen Wertung der Kräfteverhältnisse. Nicht die dominante Perspektive Chruschtschows war nach ihrer Ansicht ausschlaggebend für den Mauerbau, sondern der entschiedene Wille Ulbrichts, das Monument zu errichten. Das widerspricht der bisher gängigen Lesart.

Harrison beleuchtet den Zeitraum zwischen den 50er Jahren bis zum Bau der Mauer 1961. Nachdem sie die Anfangsphase des „Kalten Krieges“ und die spannungsreichen Beziehungen zwischen Moskau und Berlin während dieses Zeitraums geschildert hat, beschreibt sie, wie nicht zuletzt „die Berlinkrise“ in den Mauerbau mündete. 1958 glaubte Chruschtschow, die westliche Anerkennung der Souveränität der DDR in Form eines Friedensvertrages und die Umwandlung Westberlins in eine „Freie Stadt“ würden ausreichen, um Ostdeutschland zu stabilisieren und die Fluchtbewegung aus der „Ostzone“ zu stoppen. Das entsprechende Ultimatum Chruschtschows lehnten die Westmächte ab. Daraufhin wuchs sowohl auf westlicher wie auf östlicher Seite die Angst vor einer neuerlichen militärischen Eskalation, die auch in einem atomaren Schlagabtausch auf deutschem Boden hätte enden können.

Diese Angst war nicht zuletzt deshalb berechtigt, weil im Dezember 1958 zwölf Mittelstreckenraketen des Typs SS-3 in der DDR eingetroffen und im April 1959 mit Atomsprengköpfen versehen worden waren. Die Perspektiven der beiden sozialistischen Staatschefs unmittelbar vor dem Mauerbau unterschieden sich deutlich. Chruschtschow hatte den Gesamtverbund des entstehenden Sowjetreiches im Auge und wollte entgegen seiner gelegentlich polternden Rhetorik im Wesentlichen die politische Lage stabilisieren. Ulbricht dagegen sah täglich Massen von Arbeitskräften aus seinem versprochenen Arbeiter- und Bauernparadies flüchten. Ihm ging es darum, das Ausbluten der DDR von Fachkräften zu stoppen. Seine Vorschläge hierzu vertrat er gegenüber Chruschtschow nach Einschätzung Harrisons nicht als untertäniger Vasall, sondern mit einem an Arroganz grenzenden Selbstbewusstsein. Zudem gab Ulbricht der Sowjetunion die Schuld für wirtschaftlichen Rückstand Ostdeutschlands, weil von dort aus erhebliche Reparationsleistungen erbracht worden seien.

Nachdem auch die weitgehende Schließung des Flugverkehrs von Westberlin nach Westdeutschland erwogen und verworfen worden war, drängte Ulbricht nach Darstellung Harrisons fast penetrant, die Grenze in Berlin zu schließen. Unmittelbar bevor der Bau der Mauer vorbereitet wurde, waren verblüffend wenig Mitglieder der politischen Spitze der DDR eingeweiht. Harrison gibt an, es seien weniger als 100 Personen gewesen.

Richard Rabensaat

Richard Rabensaat

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