Kultur: Keine Liebe, keine Verpflichtung
Film über zwei starke Frauen gewinnt den Spielfilmpreis beim „Sehsüchte“-Festival
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Mit einer energischen Bewegung fegt die Hand über den Tisch. Ein Berg Schminkzeug landet in einer blauen Sporttasche, ein paar kleine Kartons unbekannten Inhalts purzeln zu Boden. Hektisch bindet sich eine attraktive, hochgewachsene Frau die schwarzen Haare zum Zopf. Ein Klopfen an der Tür lässt Krystyna zusammenzucken. Die dicke Vermieterin der schäbigen Wohnung begehrt lautstark Einlass. Ohne zu zögern verschwindet die schöne Krystyna mitsamt ihren Habseligkeiten kurzerhand durchs Fenster, die schwarzen Pumps in der Hand. Die verdutzte Zimmerwirtin bekommt gerade noch zu sehen, wie Krystynas 60er-Jahre VW-Bus knatternd aus dem staubigen polnischen Dorf verschwindet.
So beginnt der Siegerfilm in der Kategorie Spielfilm des „Sehsüchte“-Filmfestivals, das gestern in Babelsberg zu Ende gng. Wie zu erfahren war, gelang der Polin Anna Kazejak-Dawid mit dem schnörkellos und ruhig erzählten Film „Ein paar einfache Worte“ ein Überraschungshit. Man müsse ihn mehrfach sehen, um die Qualität des 35-Minuten Streifens zu erkennen, meinte ein Mitglied der Auswahlkommission des Festivals.
Und tatsächlich ist es ein leiser und erwachsener Film, der sich auf dem teils turbulenten und recht jugendlichen Festival in einer der wichtigsten Kategorien durchgesetzt hat. „Ich wollte einen Mutter-Tochter Film jenseits der üblichen Klischees machen“, sagte Anna Kazejak-Dawid den PNN. In der normalen Konstellation seien die Mütter erfahrener als die Töchter. „Die Mütter beraten die Töchter, helfen bei Männerproblemen und beraten die Töchter wegen der Kinder“, lächelte die 1979 geborene Regisseurin, die selbst Mutter ist. Bei ihrem Film sei das anders.
Der Film erzählt die Geschichte von Krystyna und ihrer Tochter Lena. Anna Kazejak-Dawid hat eine Art Roadmovie im „Wilden Osten“ Polens geschaffen. Krystina, die Mutter, liebt schnellen Sex und Hasch. „Keine Liebe, keine Verpflichtung“, lautet ihr Motto. Ihre Tochter Lena, beinahe 17, singt aber lieber das „Ave Maria“ im Kirchenchor.
Die Reise des gerade einmal wieder wohnungslos gewordenen Paars wird zur Selbstfindung für beide, als der klapprige VW-Bus – Sinnbild der Hippie-Ära – den Geist aufgibt. Fortan sind beide Frauen den helfenden Händen der Männerwelt ausgeliefert. Eine schwierige Erfahrung für beide. Krystyna scheint auf fast jedem Campingplatz einen Ex-Liebhaber zu finden. Doch während die stille Tochter Lena einen schweigsamen wie verständnisvollen Begleiter trifft, erleidet der Lebensstil ihrer Mutter endgültig Schiffbruch: Nur knapp entgeht sie einer Vergewaltigung durch den Campingplatzbetreiber „Rambo“.
Die souveräne Bildsprache des Films ist kein Zufall. Schon im Jahr 2005 hatte die Regisseurin einen großen Spielfilmerfolg in Polen. Für den Film „Ode to Joy“ hatte sie ihr Studium an der Polish National School in Lodz unterbrochen. Inzwischen hat sie einen Abschluss in Regie und hat aufgrund ihres frühen Erfolgs viele Projekte. Gestern saß das ruhige und selbstbewusste Nachwuchstalent mit einem Laptop im Foyer des Thalia Kinos und arbeitete an einem Script. Noch ahnte sie nichts von ihrem Erfolg in Potsdam. Doch alles nahm für sie ein Happy End. Wie in ihrem Film. Da greift die Mutter schließlich nach der Hand der Tochter. Ganz vorsichtig.
Mark Minnes
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