
© Manfred Thomas
Kultur: Kleinvieh macht auch Mist
Das erste Internationale Filmfest in Potsdam zeigte viele gute Ansätze, verhedderte sich aber zugleich in einem zu groß angelegten und stellenweise verworrenen Wunschtraum. Eine Bilanz
Stand:
Schnell, so gehetzt wie der Lauf selbst, zeichnet die Kamera die Flucht des gejagten Albinojungen durch die Landschaft Ostafrikas. Wegen seiner weißen Hautfarbe muss er um sein Leben fürchten – denn Medizinmänner zahlen hohe Geldsummen für Albinokörperteile, die angeblich magische Kräfte besitzen.
Der in Berlin lebende israelische Filmemacher Noaz Deshe zeigt in seinem Spielfilmdebüt „White Shadow“ den Alltag und Überlebenskampf eines Albinojungen in Tansania. Beim ersten Internationalen Filmfest Potsdam, auf dem er als einer von sieben Wettbewerbsfilmen lief, gewann er nun den Hauptpreis, den „Adler in Gold“. Wie die Jury mitteilte, fällte sie ihre Entscheidung unter anderem wegen der archaischen, eindringlichen und mitunter verstörenden Bilderwelten. Letztendlich war es aber die Gesamtkomposition, die überzeugte: „Rasante Montagen, eine verblüffende Regiearbeit und sphärische Post-Wave-Musik machen dieses Film-Kunstwerk nicht nur zu einem Leinwand-Erlebnis, sondern beeindrucken nachhaltig“, so die Jury-Begründung. Am gestrigen Sonntag wurde dem Regisseur der mit 10 000 Euro dotierte Preis während der offiziellen Preisverleihung im Thalia-Kino übergeben. Noaz Deshe zeigte sich tief gerührt, stand fast schüchtern auf der Bühne: „Es ist eine große Ehre, hier zu sein. Mir ist es sehr wichtig, dass ich den Film hier präsentieren konnte.“
Die Verleihung des Hauptpreises an einen Film wie „White Shadow“ zeigt im positiven Sinn, wohin sich das Filmfest Potsdam einmal bewegen kann: Nämlich zu einem Festival, das sich Ausnahmeerscheinungen widmet. Zu einem Festival, das dem Publikum die Chance gibt, kleinere Filmperlen zu sehen, die kaum eine Chance haben in das reguläre Kinoprogramm aufgenommen zu werden. Das ist mit „White Shadow“ und dem Independent-Juwel „Jamie Marks is dead“ teilweise schon gelungen.
Andere Beiträge wie Fatih Akins „The Cut“ oder Edward Bergers „Jack“ ziehen natürlich deutlich mehr Publikum an: Doch muss ein Filmfest wirklich Wettbewerbsfilme zeigen, die eine Woche später im Kino zu sehen sind oder gar – wie Michael Veerhoevens „Glückskind“ – nur für den Fernsehbildschirm produziert wurden? Wohl kaum. Auch wenn sich alle gezeigten Filme brav dem gewählten Motto „Freundschaft und Verrat“ unterordnen, fehlt Potsdams erstem Filmfest noch ein wenig die gerade Linie. Denn um sich im Meer der vielen Filmfestivals und vor allem gegen den benachbarten Konkurrenten Berlin behaupten zu können, braucht es mehr als ein paar prominente Gäste und durcheinandergewürfeltes Programm.
Ein Filmfest in der Filmstadt Potsdam etablieren zu wollen, ist aber gut und richtig. Dabei auf eine familiäre Atmosphäre mit dem Babelsberger Kiezkino Thalia und intensiven Filmgesprächen zu setzen, sogar noch besser. Doch eine Nummer kleiner hätte dem Einstieg nicht geschadet. Mit über 40 Beiträgen in sechs Tagen, einer groß geplanten Eröffnungsgala im Nikolaisaal und Aftershowpartys im nahen Awo-Kulturhaus haben sich die Veranstalter zu viel vorgenommen, was teilweise zu chaotischen Zuständen auf dem Filmfest führte. Am Sonntag war bis Mittag sogar die Ehrung für „White Shadow“ in Gefahr, weil der zu vergebende Filmpreis noch nicht angeliefert war. Während des Festivals wurden Kinozeiten kurzfristig verschoben, technische Probleme verzögerten das Abspielen der Filme, abendliche Musikacts liefen ins Leere und Filmgäste verschwanden irgendwo in der Versenkung.
Dabei sind gerade die Gäste – die Regisseure, Cutter, Darsteller – das Herz des Filmfestes gewesen. Denn das vermag ein kleines Filmfest in einer Stadt wie Potsdam: Nähe zum Publikum. Gerade dadurch holt es sich auch seine Berechtigung, neben der großen Berlinale bestehen zu können. Auch der Ansatz, internationale Serien zu zeigen – jetzt schon gelungen mit „The Third Eye“ aus Norwegen oder der herrlich verschrobenen „Marsman“-Produktion aus Belgien – könnte ein Alleinstellungsmerkmal werden. Denn die TV-Produktionen sind längst auf Kinoniveau angekommen und können Charaktere sowie Geschichten viel intensiver ausleuchten, was wiederum die Gespräche mit den Akteuren umso interessanter macht.
Nicht ins Gesamtprogramm des Festival-Debüts passte hingegen ein christlicher Gottesdienst am letzten Tag. Unklar blieb auch der genaue Zweck einer sogenannten multireligiösen Jury, die den Film mit dem gesellschaftlich höchsten Mehrwert auszeichnete – hier verdient Annekatrin Hendels Doku „Anderson".
Dennoch: Der Anfang für ein gelungenes Filmfest ist gesetzt. Mit einem ausgefeilterem Konzept, weniger, dafür aber definierteren Beiträgen und der Reduzierung auf das Thalia-Kino als Bespielungsort kann sich daraus ein kleines, aber feines Festival entwickeln. Sarah Kugler
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: