Kultur: Kling, Klang
Keimzeit stellte im Lindenpark neue CD vor und enttäuschte
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Keimzeit stellte im Lindenpark neue CD vor und enttäuschte Es tut schon weh, eine Band beim Sterben zuzusehen. Anfang der Neunziger, kurz nach der Wende, waren Keimzeit noch die vertonte Hoffnung auf einen „dritten Weg“. Die verträumt-skurrilen Texte von Sänger Norbert Leisegang boten in ihren Bilderwelten aus Narren, Piratenschiffen und fernen Ländern Rückzugsraum, um sich während der Konzerte die Wunden, die der Ellenbogenkapitalismus bereits geschlagen hatte, zu lecken. Keimzeit bedeutete zu der besten Zeit kein Konzert, sondern eher Glaubensverbund, Zusammenkunft mit einer Träne im Auge, um sich in einen Ostrausch zu tanzen, immer mindestens drei Stunden lang, und immer ausverkauft. Vielleicht konnte die Band nicht anders, als von dieser Prägung, die Vereinnahmung bedeutet, fort zu wollen. Verständlich auch, nach Jahrzehnten von debilem Textmaterial à la „Kling, Klang, du und ich, im Wiener Walzer Schritt“ fortkommen zu wollen. Am Freitag im Lindenpark jedenfalls musste man den Blick vor Scham abwenden. Was ist aus Keimzeit geworden? Auf T-Shirts und über der Bühne prangt ein in Hybris zu einem K. abgekürzter Bandname, es gibt jetzt Schlüsselbänder und eine dicke Bandbiografie zu kaufen. Eintritt satte 21 Euro, Platz ist noch genug da. Was damals ein dem Publikum ergebener Auftritt war, wo miteinander gefeiert und getanzt wurde, wird durch Laserilluminationen und Nebel zu einem professionell inszenierten Frontalunterricht. Der Opener „5 Sekunden“ kommt pompös daher wie von einer der anderen sterbenden Supergruppen, die sich zu einer letzten Tour aufraffen. Drei weitere Stücke, „Ganz normale Frauen“, „Paul“ und „Tage ohne Sex“ vom neuen Album „Privates Kino“ werden abgespielt, die frühere an Kitsch grenzenden Melodik und Melancholie sind verschwunden, harmonisch scheint der Sänger nicht mit der Band zusammen zu kommen. Das Publikum blieb verhalten, es wunderte sich vielleicht. Über den Schlagzeuger Roland Leisegang, der sich gestisch so mächtig ins Zeug legte, als ob er in der Waldbühne spielte und sich bemühen müsste, auch in 500 Meter Entfernung noch als Drummer erkennbar zu sein. Er verschleppte in seiner hilflosen Art des Trommelns diese und alle weiteren Nummern, als wolle er mit aller Kraft nicht fort aus der goldeneren Vergangenheit. In den Pausen stand Sänger Norbert Leisegang fast andächtig, bewegungslos, womöglich gerührt, und blickte mit seinem breiten, gütigen Lachen über das Publikum. So guckt einer, der auf einer Abschiedstour ist. Irgendwie abwesend. Nun, kündigte er an, wolle er auf Wunsch Stücke aus den 80ern spielen. Zunächst „So“ mit den einprägsamen Zeilen: „...bitte lass“ ihn ungestört, das Wasser weiß selbst, wo es hingehört ...“ Und die Menge johlte und applaudierte, endlich, darauf hatte man ja gewartet. Keimzeit hatte den bewährten Songs wie „Hofnarr“, „Bunte Scherben“ oder „Irrenhaus“ neue Arrangements spendiert, schnellere. Das wirkte aber, als ob man sich nicht lange mit dem alten Ballast beschäftigen wolle. Die Texte wurden von den Fans trotzdem mitgesungen. Der Saxophonist Ralf Benschu, mit Abstand der beste Instrumentalist der Gruppe – breitete seinen Schmelz aus, für Gänsehaut war er heute allein zuständig. Dann endlich ertönt „Kling, Klang“, einen länger anhaltenden Applaus bekam Keimzeit an diesem Abend nicht wieder. „Soviel zur neuen Platte“, kommentiert trocken eine Zuschauerin die restlos gescheiterten Bemühungen von Keimzeit, sich ihrer Geschichte zu entledigen. Von hier an – eine Stunde war vielleicht gespielt – hat man den Eindruck, nur noch Zugaben zu hören. „Natalie“ ertönt, von der Menge lange gefordert, das Stück mit dem höchsten Erinnerungswert, nur offensichtlich nicht für Leisegang. Er hatte zeitweise den Text vergessen. Ein Sänger, der sich sichtlich nicht wohl fühlte, eine Band, die ihre Grenzen überschritten hat. Keimzeit im Siechtum. Und die in die Jahre gekommenen Liebenden, die sich den Paartanz in der Menge nicht nehmen ließen, tanzten dazu den Totentanz.Matthias Hassenpflug
Matthias Hassenpflug
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