
© Guyane Arakelyan
Kultur: Kopfreise
Am Freitag beginnt zum zweiten Mal „Oh!-Ton“, Deutschlands einziges Festival für Radio-Feature
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„Hey, Feature! Wir mögen dich. Uns dürstet nach Geschichten, Erschütterungen, Geistesblitzen.“ So etwa könnte die verkürzte Botschaft lauten, mit der das Oh!-Ton-Festival am kommenden Wochenende in See sticht. Und das ist ganz wörtlich zu nehmen: Denn beim deutschlandweit einzigen Festival für Radiofeature, diesem speziellen Mix aus Hörspiel, Reportage und Dokumentation, gibt es nicht nur in der „fabrik“ und im „fabrik“-Biergarten Kopfkino in Hülle und Fülle. Auch an Bord der Huckleberry-Finn-Flöße kann man entspannt auf der Havel an unbekannte Ufer treiben.
Wer vor zwei Jahren bei der Festivalpremiere einen Platz auf den schwimmenden „Radio-Stationen“ ergatterte, weiß um den Reiz dieses akustischen Abenteuers. In diesem Jahr konnte das Team vier statt drei Boote „entern“, um den Ansturm zu entzerren. Und nicht nur zur See gibt es in der Zweitauflage einen höheren Wellenschlag. Statt 40 werden nunmehr 50 Radiofeatures unter die Leute gebracht, die sich per Kopfreise ins eisig-dunkle Lappland ebenso wie ins sonnendurchtränkte Afrika entführen lassen können.
Zu den sechs Studenten der Fachhochschule Potsdam, die seit gut einem Jahr nur noch mit Kopfhörern unterwegs sind, um aus 300 Sendungen die festivaltauglichsten herauszufiltern, gehören die 23-jährige Theresa Pommerenke und die 22-jährige Tomke Braun. „Wir wollen mit unserer Auswahl keine Schlagworte oder Jubiläen bedienen“, betonen die aufgeschlossenen jungen Frauen. Ihr Ohr galt eher dem Feinen, Verrückten, Individuellen. Tomke Brauns Lieblingsfeature ist „Release“. „Es ist total erfrischend. Der Autor Paul Plamper besuchte straffällig gewordene Jugendliche im Gefängnis und machte mit ihnen Musik. Nichts wird dramatisiert, und es gibt auch keine Interviews. Und trotzdem lernt man die Personen total gut kennen, in denen durch das gemeinsame Musizieren ganz viel hoch kommt.“ Theresa will sich indes nicht auf einen Favoriten festlegen, „bei mir ist das ganz stimmungsabhängig“.
Beim Hören dieses so weit gefassten Genres Radiofeature, das kaum einer wirklich kennt, weil es meist zu nachtschlafender Zeit gesendet wird, haben die Studenten gemerkt, dass viele zwar wunderschön waren, einiges sie aber auch störte. Deshalb verfassten sie das „DokMa2011-Feature“, inspiriert von dogma95 des dänischen Filmemachers Lars von Trier. „Wir wollen, dass noch mehr Überraschungen ins Radiofeature hineinkommen, dass es verrückter und wilder wird. Weg mit der Faktenhascherei, mit dem Perfekten und Glattgebügelten. Dabei sprechen wir aus Hörersicht und hoffen nun, dass die Macher Stellung beziehen.“ Ihr hochgestecktes Ziel: Die Autoren sollen künftig DokMa2011-Features produzieren. Dieses Manifest fordert als erstes: „Das Feature ist eine Kunstform! Informationsvermittlung ist nebensächlich. Lasst dem Hörer Platz für seinen eigenen Kopf voller Bilder, Gedanken und Assoziationen!“ Ihre Forderungen schickten sie an etliche Autoren und Redaktionen. „Wir hoffen, am Sonntag mit einigen von ihnen darüber diskutieren zu können.“ Dazu geht es ins extra eingerichtete „Wohnzimmer“ in der „fabrik“ mit altem Teppich, Couch und Stehlampe. Ein Inspirationsort, an dem Gäste aus verschiedenen Bereichen rund um Radio, Musik und Ton auch Einblicke in ihre ganz persönliche „Heldengalerie“ geben.
Das ursprüngliche „Oh!-Ton“-Konzept der Festival-Initiatorin Dörte Fiedler, ehemalige Kulturarbeiterin an der FH und inzwischen freie Radioautorin, wurde für dieses Jahr gemeinsam verfeinert und durch Schnittstellen mit anderen Bereichen ausgeweitet. Da das Festival 2011 mit der „Stadt für eine Nacht“ am 9./10. Juli zusammenfällt, nehmen die Studenten eines der rund 50 „Zelte“ in Beschlag, um dort O-Töne zu sammeln. Ihr 24-stündiger Interview-Marathon soll dazu dienen, Geschichten und Alltagsmythen aus Potsdams Versenkung zu holen, vom Standort Schiffbauergasse und darüber hinaus. Vielleicht erzählt ihnen jemand, wie es früher in der Wäscherei zuging oder in der Kokerei. Oder was den alten Fischern so ins Netz ging. Die Studenten strömen aber auch aus und besuchen Altersheime, um Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Später einmal gibt es dann einen GPS-gesteuerten Audio-Walk über die Schiffbauergasse, wo Besuchern über Kopfhörer Geschichten dieses Ortes erzählt werden. So jedenfalls die Projektidee.
Doch erst einmal geht es um das Oh!-Ton-Festival. Und auf dem gibt es sogar Tanz zu hören: In der Performance „The sound of it“ von Lucia Glass. „Ein Wahnsinns-Sinneserlebnis, das einen richtig unter Strom setzt“, erzählen die jungen Frauen begeistert. „Man hört nackte Füße über den Boden gehen, Vorhänge werden zugezogen, ein Hund mischt sich ein ...“
Die in Berlin wohnenden Studentinnen aus Stuttgart und Kiel kennen die Schiffbauergasse vor allem aus Vorträgen, die sie selbst hielten, Theresa auch von einer Tanzaufführung in der „fabrik“, in der sie mitwirkte. Doch zum Ausgehen zieht es die beiden eher nach Berlin.
Dennoch schwärmen sie von diesem Platz am Wasser und wollen nicht in die oft gehörte Litanei über den totsanierten Standort einstimmen.
Mit „Oh!-Ton“ ist jedenfalls Lebendigkeit garantiert. Dafür sorgen auch die Oh!-Ton-Jäger, die ihre dreiminütige „Beute“ auf den Festival-Wettbewerbstisch legten. „Über 20 Einsendungen haben wir bekommen, sogar aus der Schweiz.“ Jury und Zuhörer entscheiden nun beim Festivalfinale am Sonntagabend, wer auf originellste Weise mit Geräuschen aller Art aus dem vorgegebenen Satz „Nein, erklärte er, aber es würde Stille sein“ ein packendes Kopfkino produzierte.
www.ohton-festival.de
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