
© promo
Kultur: Kulturhistorische Hilfskonstruktion
„Carmen für Landratten“ auf der „Seebühne“ im Kabarett Obelisk
Stand:
Carmen ist das lateinische Wort für Gesang, Lied, Dichtung, aber auch für Zauberspruch oder das Kreischen einer Eule. „Carmen“ ist eine Oper von George Bizet aus dem Jahre 1875, darin bekanntlich dringlichst zum Kampf gegen die nahende Schwiegermutter geblasen wird. „Carmen für Landratten“ will das Pendant zur See-Oper „Carmen“ am Wannsee sein. Deswegen wird diese Fassung für gewöhnlich auch auf der „Seebühne“ in der Charlottenstraße 31 gegeben, falls gerade mal kein Taifun oder Tsunami vorbeischaut. Trotz passender Dekoration erinnert sie ganz merkwürdig an die normale Sommerbühne der altgedienten Kabarettisten Gretel Schulze, Andreas Zieger und Helmut Fensch, aber das kann täuschen. Am Wochenende kam diese Art „Carmen“-Dichtung im Kabarett Obelisk zu Premiere.
Auf in den Kampf also! Im Original ist diese Carmen ein ziemlich verruchtes Frauenzimmer des Jahres 1820, welches im Großraum Sevilla allen Männern so lange den Kopf verdreht, bis sie sich gegenseitig meucheln. Ganz vage so ist auch die Potsdamer Adaption angelegt, wobei Gretel Schulze eine leicht modernisierte Carmen gibt, Andreas Zieger den Stier- und Frauenkämpfer Escamillo. Dem mitspielenden Dramaturgen und Musiker Helmut Fensch bleibt da nur die undankbare Rolle des seiner Micaela fremdgehenden Verlobten José.
Eine kulturhistorische Hilfskonstruktion, wie der diensthabende Sachse unter den Dreien auch bereitwillig einräumte, denn es geht trotz musikalischen, instrumentalen und szenischen Einsatzes weder um echt spanische Gefühle noch um Stierblut, eher um Angela Merkel, den neuen Gauck(ler) und Co. Das fast zweistündige Programm mit neuen Texten und bewährten Reprisen kam nur sehr schwer in Gang. Vielleicht lag das an jener Gruppe von Senioren, die das Gros im Publikum bildeten, ältere Herrschaften gelten ja fürderhin als besonders kritisch. So oder so, der Verlauf des Ereignisses war eigentlich fast wie immer: Die Politkaste bekommt ordentlich eins (oder auch mal zwei) auf die Mütze, weil sie nur Mist baut, anderes wurde in Songs von den Gipsy Kings bis zu Zahra Leander gepackt, Spielszenen mit leichter Verkleidung vom Solo bis zum Trio - und das alles mehr oder weniger locker vor Bizets „Carmen“ gespannt. Manchmal gab es Versuche, gewisse Dinge endlich mal etwas deutlicher auszusprechen, aber auch Altlasten wie der Marxismus-Leninismus waren wieder dabei. Schlechte Textverständlichkeit beim Singen und Mitinstrumentieren, auch hat die Kunst, Pointen zu setzen, deutlich nachgelassen. Wenig Kampfstimmung im Ganzen – so ganz ohne Schwiegermutter.
Aber das Team vom Obelisk hatte ja vorgesorgt. Weil sie nur zu Dritt waren, musste eine Souffleuse im Publikum als Eingreif-Faktor dienen, um den Tod der sehr neuzeitlichen Carmen zu verhindern. Sie sollte einfach „Stop!“ sagen, wenn auf der Bühne die Dolche blitzten, und nichts würde geschehen. Aber dazu kam es nicht, die Ärmste hatte übersehen, dass man mit einer Bratpfanne hantierte! Josés Exitus dauerte aber nicht lange, das Lied „Seemanns Braut ist die See“ brachte ihn schnell wieder auf die Beine. Dann wurde übern See gefahrn, gefahren übern See. Carmen war, genau wie im richtigen Leben, wieder der Motor, Andreas Zieger wirkte meist aufgeweckt, Helmut Fensch als Mann der Zaubersprüche gelegentlich anders. Inhaltlich blieb das neue Programm eher Dünnbier. Man griff Politiker an, aber nicht die Politik. Man weilte mehr in Berlin als am Wannsee. Ein bisschen Weltpolitik, ein paar Witze dazwischen. Ja, und wo blieben die Reflexe auf die jüngsten Turbulenzen gleich vor der Tür? Kein Wort über Potsdam! Da könnte glattweg einer denken, Frau Carmen scheue jedes Risiko mit den Kollegen vom Stadthaus. Olé, ojé, ojé!!
Nächste Vorstellungen am heutigen Dienstag und morgigen Mittwoch, jeweils um 19.30 Uhr, im Kabarett Obelisk, Charlottenstraße 31. Karten unter Tel.: (0331) 29 10 69
Gerold Paul
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: