Kultur: Landnahme
Christoph Hein las am Vorabend der P.E.N.-Tagung
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Christoph Hein las am Vorabend der P.E.N.-Tagung Wortkarg ist Bernhard Haber, die Hauptfigur des neuen Romans „Landnahme“ von Christoph Hein, den er am Vorabend der P.E.N.–Jahrestagung in Potsdam am Mittwoch vorstellte. Nachdem er sich mit der von ihm konstruierten Person vertraut gemacht habe, sei ihm klar geworden, dass sich dieser maulfaule Mensch nicht als Erzähler seiner Lebensgeschichte eigne. Deshalb, so Hein, ließ er andere Personen von Bernhard Haber berichten. Die Vielstimmigkeit über einen bis zur Sturheit einsilbigen Menschen, der 1950 mit zehn Jahren als Umsiedler aus Schlesien in eine sächsische Kleinstadt kommt, dort Ablehnung und Ausgrenzung erfährt, sich mit nicht immer legalen Methoden hocharbeitet und am Ende des Buches einer der wichtigsten Honoratioren der Stadt ist, bettet das Schicksal des Einzelnen in das seiner Umwelt. So werden mit fünf Stimmen nicht nur fünf Perspektiven auf Bernhard Haber dargestellt, sondern auch fünf Jahrzehnte deutscher Geschichte. Genauer gesagt, zeichnet Hein ein Porträt der DDR von innen, wobei er chronologisch wichtige historische Ereignisse wie die Umsiedlungen nach dem Krieg, die Gründungen der staatlichen LPG, den 17. Juni 1953, das System der Fluchthilfe und das Netzwerk der selbständigen Handwerksbetriebe konsequent aus privater Sicht beschreibt. Unter der Hand zeichnet Hein mit „Landnahme“ nicht nur das Psychogramm eines einzelnen Menschen, sondern das einer Gesellschaft. Der vor einem Monat 60 Jahre alt gewordene Hein wuchs wie seine Hauptfigur als Umsiedlerkind in der DDR auf. Die Lebensgeschichte Bernhard Habers scheint ein Kommentar zu der aktuellen Betonung der Opferperspektive der Vertreibung deutscher Menschen in der Nachkriegszeit zu sein, doch hatte Hein, wie er betont, sein Manuskript bereits fertig gestellt, als die Diskussionen um das geplante Vertriebenenzentrum in Berlin begannen. Heins Blick auf das Thema ist subtil und deshalb so überzeugend. Aus dem Opfer Haber wird jemand, der sich „die Umstände anzupassen weiß“ und aus den zugefügten Verletzungen die bittere Kraft für seinen Lebensplan zieht. Die zu erwartende Rache bleibt am Ende aus, denn Haber ist im vereinigten Deutschland als gut situierter Bürger angekommen. Die Lesung in der gut besuchten Reithalle A fokussierte auf eine weitere Qualität des Textes. Durch das Vorlesen wurde deutlich, wie überzeugend es Hein gelingt, seine sprechenden Figuren durch ihren jeweils eigenen Sprachduktus zu charakterisieren. Sie schienen sich vom vorlesenden Autor geradezu zu emanzipieren, ein Aspekt den Hein in der folgenden von ihm selbst geleiteten Diskussion nochmals unterstrich. Einmal entworfen, diktiere ihm die Figur qua ihrer Eigenheit die zu erzählende Geschichte. Gefragt nach seiner Schreibpraxis, betonte Hein im mehrdeutigen Sinne die Lust an der Unterhaltung. Einerseits emanzipieren sich die Figuren so sehr von ihm, dass sie ihm als Gesprächspartner dienten, andererseits sei der Hauptantrieb des Schreibens die eigene Unterhaltung, die durch Neugier an der Handlung entstehe. Beide Effekte stellen sich auch für die Lesenden von „Landnahme“ ein, was den besonderen Reiz des Buches ausmacht.Helen Thein
Helen Thein
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