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Kultur: Leben im Stillstand

Birk Meinhardt liest aus seinem Familienroman „Brüder und Schwestern“

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Am Anfang steht der Tod. Nach viereinhalb Seiten Rückblick auf die Unbeschwertheit und den Übermut der Kinheit wird in Birk Meinhardts Roman „Brüder und Schwestern“ ein Mensch zu Grabe getragen. Rudolf Werchow ist gestorben. Werchow, Sozialdemokrat, der sich Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre mit den Nazis und den Kommunisten geprügelt, später einen Kommunisten drei Jahre lang vor den Nationalsozialisten in seinem Haus versteckt und nach dem Zweiten Weltkrieg im thüringischen Gerberstedt die DDR-Staatspartei SED mitbegründet hat. Und mit der Beerdigung von Rudolf Werchow stellt uns Meinhardt all die Menschen vor, vor allem aber die Familie Werchow, die auf den kommenden knapp 700 Seiten Geschichten aus einer längst vergangenen Zeit erzählen.

Wer „Brüder und Schwestern“ (Carl Hanser Verlag, 24,90 Euro) liest, diesen Roman, der für den Leipziger Buchpreis nominiert war und den Birk Meinhardt am heutigen Dienstag im Literaturladen Wist vorstellt, wird unwillkürlich an „Der Turm“ von Uwe Tellkamp denken. Dieser preisgekrönte Roman, dieses sprachgewaltige Monstrum von einer Familiengeschichte, die Tellkamp in den Jahren von 1982 bis 1989 vor allem in Dresden angesiedelt hat und die gleichzeitig eine Geschichte über die letzten Jahre, die Agonie der DDR ist. Auch Meinhardt erzählt wie Tellkamp von einer Familie, ihren Verwicklungen und Verwirrungen in den Jahren von 1972 bis 1989. Doch wo Tellkamp in fast schon lyrischer und auswuchernder Manier ein regelrecht barockes Sprachkunstwerk schafft, schätzt Meinhardt sprachlich das Bodenständige. Hier erzählt einer von den Menschen, ihren Zwängen und Bedürfnissen, ihren Versuchen, mit dem Leben umzugehen in einer satten und reichen, aber immer verständlichen Sprache. Wer sich mit Tellkamps Sprache in „Der Turm“ oft schwergetan hat, der wird mit Birk Meinhardt schnell seine Freude haben.

Eröffnet hat Meinhardt „Brüder und Schwestern“ mit einer Episode aus der Kinheit von Willy Werchow, dem Sohn von Rudolf Werchow, und Achim Felgentreu. Von den beiden, mittlerweile erwachsen gewordenen Freunden und ihren Familien handelt der Roman. Willy Werchow, wie sein Vater eine prägende Persönlichkeit im fiktiven Gerberstedt, ist Produktionsdirektor im Druckbetrieb „Aufbruch“. Einer, der versucht, aus den Umständen das Beste zu machen, der nicht schönredet, wo es nichts schönzureden gibt, der sich aber auch nicht auflehnt, wo es angebracht wäre. Willy Werchow passt sich an und geht immer mehr Kompromisse ein. Achim Felgentreu dagegen hat sich dem System entzogen. Schon als Schüler aufsässig, arbeitet er nun als Schrankenwärter und lebt in einem Bahnwärterhäuschen an den Schienen. Doch das System DDR, diese blasse, zukunftslose Illusion, hat sich schon zu tief in das Leben dieser beiden Männer und ihrer Familien gefressen. Anhand der Kinder und Partner zeichnet Meinhardt die unterschiedlichsten Formen der Auflehnung gegen und der Anpassung an eine Gesellschaftsordnung, in der es nur ein Für oder ein Wider geben kann. Das alles erzählt Meinhardt mit diesem klaren und epischen Ton, der wie aus einer schon so weit zurückliegenden Zeit herüberklingt. Erzählt von einem Land, das nicht erst vor über 23 Jahren untergegangen zu sein scheint, sondern schon viel, viel früher. Gerade in dieser Sprache, die Birk Meinhardt gewählt hat, liegt eine der Stärken dieses Romans, der nicht selten wie ein böses Märchen klingt. Doch durch seine Wahrheit wiegt das noch viel schwerer. Dirk Becker

Birk Meinhardt liest aus „Brüder und Schwestern“ am heutigen Dienstag um 20 Uhr im Literaturladen Wist, Brandenburger/Ecke Dortustraße. Der Eintritt kostet 5 Euro

Dirk Becker

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