Kultur: Leben in der Elektrokratie Thomas Brussig las aus seinem neuen Roman
Was wäre, wenn die Mauer nicht gefallen wäre? Diese Frage hat sich Thomas Brussig eines Nachts gestellt.
Stand:
Was wäre, wenn die Mauer nicht gefallen wäre? Diese Frage hat sich Thomas Brussig eines Nachts gestellt. Sie war der Ausgangspunkt seines neuen Romans „Das gibt’s in keinem Russenfilm“, den er am Freitag in der ausverkauften Stadt- und Landesbibliothek vorstellte. In diesem Buch hat die deutsche Wiedervereinigung nicht stattgefunden, besteht die DDR auch im Jahr 2014 noch, und zwar als Staat, in dem der Kapitalismus unter Parteiführung umgesetzt wurde und der Dissidentenschriftsteller Thomas Brussig lebt.
Das kontrafaktische Erzählen von immer noch zwei deutschen Staaten gab es bereits in Simon Urbans Politthriller „Plan D“. Zwar benutzt Brussig dieses Szenario ebenfalls, doch versteht er sein Buch vor allem als Parodie auf das Genre der Autobiografie. Mit viel Witz und einer gehörigen Portion Selbstironie schustert er sich hier also eine Lebensgeschichte zusammen, die anfangs noch mit manch realen Fakten übereinstimmt, dann ins Fiktive mündet und sich als funkelnde Realsatire lesen lässt.
Mehrere Kapitel daraus liest Thomas Brussig an diesem Abend vor und wird zu Recht von Carsten Wist für den Einfallsreichtum bei der Verortung öffentlich bekannter Personen in diese ausgedachte moderne DDR gelobt. Und immer wieder verteilt Brussig dabei auch Seitenhiebe auf die gesamtdeutsche Literaturszene. So vergeigt etwa Günther Grass mit Absicht die Olympiabewerbung Berlins, ist Maxim Biller der wichtigste West-Literat oder Alexander Osang der Chef des „Neuen Deutschland“. Natürlich, es sei schon heikel, jemandem so etwas zu unterstellen, gibt Brussig zu. Doch habe er nicht alte Rechnungen begleichen wollen und die Personen als Romanfiguren auch nicht völlig karikiert, sondern ihnen meist typische Floskeln in den Mund gelegt.
Und wenn etwa Wolfgang Thierse den Roman lesen sollte und sich darin plötzlich als Betreiber des „Bombastus“-Verlags wiederfindet, dürfte dem die Idee vielleicht sogar ganz gut gefallen, wie Brussig schmunzelnd vermutet. Skurril ist auch das Szenario des SED-Staates der fiktiven Gegenwart. Mithilfe ganzer Wälder aus Windrädern und praktisch lautlosen Elektroautos hat sich die rückständige DDR zu einem ökologischen Vorzeigeland entwickelt. Allein Thomas Brussigs gleichnamiger Protagonist kämpft wacker gegen diese „Elektrokratie“, in der die Bevölkerung zwar in bescheidenem Wohlstand, doch nach wie vor ohne Meinungsfreiheit lebt. Sein Roman zeichne also keinen etwa reformierten Sozialismus nach, sondern ein Land, in dem, ähnlich wie in China, die Menschen die Demokratie für ein bisschen Konsumglück verraten hätten, ein Staat mit einer Regierung, die sich ihr Volk eingekauft habe, sagt Brussig.
Der Romantitel „Das gibt’s in keinem Russenfilm“ greift eine in der DDR geläufige Redewendung auf. Brussig hat ihn seinem Verlag selbst vorgeschlagen, mit der Begründung, dass dann der „Jubel in der Ostkurve“ sicher sei. Dass er sein Buch bisher noch nicht im Westen vorgestellt hat, sei vielleicht dem Titel geschuldet, so Brussig augenzwinkernd. Daniel Flügel
Daniel Flügel
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: