Kultur: Lebensdicht
Die Nacht der Poesie im Hof des Kabaretts Obelisk
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Halt die Klappe! schimpfte der Schriftsteller Manfred Richter am Sonntagabend in eine der vier Linden hinein, wo ein Krähentier sein viermaliges „Krah!“ in den Abendhimmel schrie, als wollte es die „Nacht der Poesie“ im Hof des städtischen Kabaretts mit Absicht stören. Da diese Grobheit nur wenig half, legte Manfred Friedrich Kolb, einer der Protagonisten des Literatur-Kollegiums Brandenburg, auf der Holzbrettl-Bühne im Hinterhof des Kabarett Obelisk mit einem Limerick nach: Wie der genau ging, war so schnell nicht zu notieren, aber er hat seine opulente Sammlung von ungefähr 6200 Exemplaren ganz zweifellos bereichert.
Die mit „Des Tages Sommerduft“ übertitelte Veranstaltung des Literaturkollegiums Brandenburg e.V. begann schon am Nachmittag mit Lesungen der Kinderbuchautoren Till Sailer und Christa Kozik, nur war der Besuch ob des herrlichen Sommerwetters ziemlich spärlich gewesen. Eigentlich schade, denn die von Walter Flegel geleitete Literaturveranstaltung hatte es sich zur Aufgabe gemacht, genau die Jahreszeit Sommer zur Nacht hin mit der Poesie zu verabschieden. Doch paradoxerweise: Bestes Sommerwetter verhinderte dies. Aber verdammt man deshalb einen solchen Vogel, gleich ob Mensch oder Tier, als „unmelodisch“?
Sieben Mitglieder des Kollegiums lasen vor zeitweise bis zu fünfzig Gästen, darunter auch ziemlich kleine. Das bravouröse Ensemble „Klangwelten“ um Michael Schenk versüßte, falls überhaupt nötig, diesen lebensdichten Abend mit unerhörten Kompositionen und Adaptionen, einmalig, produktiv, im Wortsinn weitreichend und weiträumig. Hier taten sich modernste Welten auf, wert genug, auch jenseits des notierenden Strukturalismus wahrgenommen zu werden.
Es sind ja genauso „Poesien“ wie die wundervollen, sofort unter die Haut gehenden Verse von Henry-Martin Klemt, die den Abend mit Reife und Würde, Takt und Liebe so wundertätig beschlossen. Davor eine lange Limerick-Reihung, dann eine kurze Erzählung von Manfred Richter um „Frenzels Rache“, weniger stark als eine spätere. Da wurde eine gerade abgeholzte Birke zum Dolmetsch zwischen erinnerter Kindheit und erlebtem Alter, bewahrte sie doch die Nachricht der zwölfjährigen Annemarie an ihn, bevor sie im Bombenhagel Potsdams umkam. Dieser Text nahm einem beinahe die Luft.
Wer sich hinter dem maskulinen Krimi-Pseudonym Tom Wittgen verbirgt, sah und erfuhr man bei der Lesung des Anfangs von „Tod im Regen“, während andere den Dramatiker Jürgen Groß noch kennen dürften. Sein Beitrag vom „Kleinen Parteitag“ gehörte noch in die Zeit, als man die Großen Parteitage pflegte. Natalia Gorbatyuk vom Potsdamer Kibuz erzählte in ihren melodischen Dichtungen von Heimweh („Bin ich des Schicksals Hausherr oder Gast?“) oder sang Hymnen und Sonette auf Kalorien, Öle und Fette. Beeindruckend auch die schöne Ich-Erzählung der Kunsthistorikerin Sonja Puras. Unverblümt schildert sie ihre Ängste vor einer Unterstufenklasse, die durchs Neue Palais geführt werden soll. Ein Lehrtext über kindliches Sehen und das verquere erwachsne Verstehen, dem jüngsten Zuhörer gewidmet, ihrer fünfmonatigen Tochter. Nach einhundertfünfzig Minuten war die Nacht der Poesie zwar nicht vorbei, aber spätestens die suggestiven Verse von Henry-Martin Klemt schienen das liebe Federvieh zum Schweigen gebracht zu haben. Andächtig lauschten Krähe und Tauber im Hofe von oben herab. Gerold Paul
Gerold Paul
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